Eine Beichte zum Anfang: Ich heule gerade. Nein, anders. Es sind regelrechte Sturzbäche, die da über meine Wangen rinnen. Der Grund ist sehr traurig: Sandros Oma ist vor Kurzem im Alter von 94 Jahren gestorben.
Das ist sehr okay. Die Frau durfte sehr alt und senil werden. Sie betonte regelmässig, ergo alle vier Minuten, dass sie gerne abtreten will. Für alle war es eine Erleichterung, als die Nachricht kam, dass das Grosi das Zeitliche gesegnet hat. Sandro öffnete eine gute Flasche Wein, schenkte mir und ihm ein Glas ein, erhob das Glas und sprach einen sehr berührenden Toast auf das Omi.
Da hat es mich zum ersten Mal genommen. Sandro starrte mich ungläubig an. Ich hab die Frau nur einmal getroffen. Sie hat alle paar Minuten nach meinem Namen gefragt und meine Existenz noch just in dem Moment vergessen, als ich zum 34. Mal mit «Emma» antwortete.
Mit dem Tod bin ich schlecht. Ich kann auch locker um die Grosstante einer Nachbarin weinen, die 102 wurde, in den Staaten lebte und eine, Pardon, bösartige alte Hexe war.
Ich finde Sterben halt einfach traurig und verstehe nicht, dass es nicht allen Menschen so geht. Also trinke ich auf Sandros Oma und weine Rotz und Wasser.
Sandro sagt, es sei voll okay. Ich müsse aber null mit zur Beerdigung, wenn das für mich too much wäre. Da sind wir also: Jetzt muss er mich trösten. Obwohl SEIN Grosi gestorben ist.
Ich reisse mich zusammen, will eine super Freundin sein und sage, dass ich aber schon sicher mit zur Beerdigung komme.
Sandro, er spielt ja Klavier, bereitet eine Rede vor. In der Kirche spielt er dazu drei Lieder. Das erste ist «S isch mer alles eis Ding». Omis Lieblingslied. Hat Sandro jedes Jahr an Weihnachten und zu Geburtstagen mit ihr gesungen.
Alle lächeln gerührt. Manche vergiessen ein ruhiges Tränchen. Nur eine kriegt sich nicht mehr ein. Und je mehr sie sich nicht einkriegt, desto schlimmer wird es.
Frau Fischer, Sandros Mutter, die mich seit Tag eins nicht sehr mag, schaut mich entsetzt an. Was meinen Tränenfluss noch viel mehr anregt. Da ist jetzt nicht nur eine arme Frau gestorben, nein, die Mutter meines Freundes findet mich, Tic Tac Toe würden sagen: Sch-Sch-Sch-Scheisse.
Taschentücher habe ich nicht dabei. Habe ich nie. Mir sind Menschen suspekt, die immer Taschentücher dabei haben. Es ist Sandros Vater, der mir eines reicht und mir nett auf die Schultern klopft. Das berührt mich so sehr, dass … Ihr wisst schon.
Langsam aber sicher starren mich hier alle an.
Ich stehle also gerade einer Toten die letzte Show.
Meine inexistente Selbstkontrolle ist ein Arschloch.
Derweil ist Sandro nun bei seiner Rede angekommen. Die ist so unfassbar feinfühlig, schön, versöhnlich und voller Liebe, dass an Beruhigung meinerseits nicht zu denken ist. Auch Frau Fischer ist aufgebracht. Sie tuschelt jetzt mit Sandros Schwestern. Die eine setzt sich nun zu mir und nimmt mich in den Arm.
SO HERZIG!
Man möge mir nun eine Tonne Taschentücher reichen. Ich versuche in meinem Elend zumindest ein klitzekleines wohlwollendes Nicken von Frau Fischer zu bekommen. Ohne Erfolg.
Derweil ist Sandro beim zweiten Stück angekommen.
Er spielt und singt jetzt «Halleluja». Er sieht dabei umwerfend aus. Dieses Hemd, das er sonst nie tragen würde. Diese verdammt gut sitzende Jeans, der Bart, alles.
Ich will das heiraten. Ich will ihn heiraten. Und zwar jetzt.
Als er zurückkommt, sich hinsetzt und meine Hand ganz fest in seine nimmt, sage ich ihm, dass ich ihn heiraten will. Ich schluchze es raus. In sein Ohr. Ich sage, dass ich es todernst meine.
Sandro starrt nach vorn.
Und sagt nichts.
Das irritiert mich so, dass ich kurz aufhöre zu weinen. Um sogleich wieder damit anzufangen, weil ich sicher bin, dass er mich nicht nur nicht heiraten, sondern nach heute auch verlassen will.
Was man ihm eventuell gar nicht übel nehmen könnte.
Eine halbe Stunde später stehen wir draussen an Omas Grab. Frau Fischer lacht. Die Kartoffeln von Sandros Schwester albern rum. Sandro ist auch fröhlich. Alle hier sind im Frieden. Was enorm schön ist. So schön, dass ich …. sofort aufs WC muss.
Erst beim Zmittag im Restaurant kriege ich mich langsam etwas ein. Am Ende machen Sandro und ich noch einen Spaziergang über den Friedhof. Er erzählt von seiner Kindheit. Von seinen Erinnerungen an seine Grossmutter. Von ihrem Stallboden. Ihrem Apfelkuchen. Und all den Geschichten, die sie ihm vor dem Schwedenofen erzählte. Und all den Süssigkeiten, die sie ihm heimlich schenkte.
Mein Herz explodiert.
Später daheim will ich den Guten immer noch heiraten. Er mich aber glaubs/verständlicherweise jetzt gerade nicht.
Heute, ein paar Tage nach der Beerdigung, glaube ich, dass nicht heiraten tipptopp ist. Und uns mehr entspricht. Wilde Ehe steht uns wohl wirklich am besten.
Ob ich mir das einrede oder schönrede, weiss ich nicht so genau. Wie soll ich auch? Ich bin ja immer noch in Trauer und emotional ausser Rand und Band.
Das sagen wir Sandro aber nicht.
Und Frau Fischer erst recht nicht.
Der sagen wir auch nicht, dass wir niemanden kennen, der so maximal unentspannt ist wie sie.
Ausser ich.
Haha.
Gruss,
Emma, nicht Fischer
Als mein bester Freund vor Jahren starb, heulte ich wie ein Schosshund auf der Beerdigung. Eine damals gute Freundin hat sich einige Zeit später darüber "lustig" gemacht. Als Kerl heult man nicht auf einer Beerdingung... Tja das wars dann mit der Freundschaft.
Solche irrationalen Gefühlsausbrüche kenne ich sonst nur von Schwangeren, mach vielleicht doch mal einen Test.
So wie du es beschreibst, wäre es aber taktvoller gewesen, nicht an der Beerdigung teilzunehmen - ich als nahe Verwandte der Verstorbenen hätte dein Verhalten jedenfalls als maximal pietätlos und befremdlich empfunden🙊
Sandro kennt dich ja und wusste in dem Moment deines "Antrags", dass du gerade nicht klar im Kopf ist, daher finde ich, dass es super reagiert bzw. nicht reagiert hat