Es ist der 25. April 1974, kurz nach Mitternacht. Im Radio erklingt zweimal das Lied «Grândola, Vila Morena» (deutsch: Grândola, braungebrannte Stadt). Es ist das zweite Signal des Militärputsches gegen das faschistische Regime von António de Oliveira Salazar in Portugal, der eine ganze Nation befreien wird. Es ist die sogenannte Nelkenrevolution oder in Portugal auch einfach «der 25. April», welche das Ende des faschistischen Regimes in Portugal einläutete und die autoritäre Diktatur des «Estado Novo» (deutsch: Neuer Staat) stürzte.
Das ist 50 Jahre her und noch heute leuchten überall in Portugal am 25. April rote Nelken. Sie sind das Symbol, welches der Revolution ihren Namen verlieh.
Wie für viele andere Familien war dieser Tag auch für meine eine Erlösung. Denn mein Grossvater entkam knapp der Gefangenschaft, weil er öffentlich das Regime kritisierte. Und auch wenn ich im Aargau – weit weg von Portugal grossgeworden bin – prägte mich eine Geschichte dazu. Doch dafür muss ich ein wenig ausholen und bei einem anderen Mann beginnen, der nicht mein Grossvater war.
António de Oliveira Salazar war der Mann, der Portugal in die faschistische Ära führte. Ein Mann, der noch heute von Teilen der portugiesischen Bevölkerung idealisiert wird. Ein Mann, den viele sich zurückwünschen.
Auch solche, die seinerzeit gelebt haben. Wie etwa die Generation meiner Eltern, die jeden Morgen in der Schule dem Porträt Salazars huldigen mussten. Mit ausgestrecktem Arm und der Hand stolz auf der Brust sangen sie, dem Porträt Salazars zugewandt, die portugiesische Nationalhymne.
Salazar war ein Mann, der durch seine unbestechliche und bescheidene Art das Volk für sich gewann, das zuvor unter der Monarchie gelitten hatte und auch in der 1911 durch den Sturz des letzten portugiesischen Königs, Manuel II., eingeführten Republik immer noch nicht zur Ruhe fand.
Diese erste Republik war von Unruhen und Instabilität geprägt. 1926 kam es daher zu einem Militärputsch, was der ersten Republik den Genickbruch gab. Bereits damals spielte Salazar eine wichtige Rolle. 1933 gründete er den «Estado Novo», der über vier Jahrzehnte das Land eisern im Griff hatte.
Salazar holte in seiner Zeit das Land aus den Schulden, kurbelte die Wirtschaft an. Er bereicherte sich nicht am Staat, lebte bescheiden. Er bekam auch kein pompöses Staatsbegräbnis, als er am 27. Juli 1970 starb, und wurde in einem einfachen Grab beigesetzt. Das verschafft ihm bis heute Sympathien.
Doch wer so viel Macht hat, tut alles, um an der Macht zu bleiben und seine Gegner auszuschalten. So wurde eine Pressezensur eingeführt sowie ein Streikverbot. Die Geheimpolizei Pide (Polícia Internacional e de Defesa do Estado, zu Deutsch: Internationale Polizei und Staatsschutz), die ähnlich wie die Gestapo in Nazi-Deutschland agierte, sorgte dafür, dass Kritiker und Andersdenkende mundtot gemacht wurden. Und damit sind wir beim Kern der Geschichte: Dem entkam mein Grossvater nur knapp.
Mein Grossvater war ein guter Mann. Er kümmerte sich um seine Familie und trotz der eher bescheidenen Verhältnisse fehlte es meinem Vater und seinen vier jüngeren Geschwistern an nichts. «Er brachte uns fast jeden Tag Bonbons mit, wenn er von der Arbeit kam. Das war damals keine Selbstverständlichkeit», erinnert sich mein Vater.
Wenn meine Grossmutter die Geduld verlor und den Kindern eine Ohrfeige oder einen Klaps verpasste, pflegte mein Grossvater gemäss Überlieferung immer zu sagen: «Mit Schlägen erzieht man nicht!» Er erhob auch nie seine Hand gegen die Kinder oder seine Frau. Trotzdem hatten sie alle Respekt vor ihm.
Doch auch er hatte eine andere Seite: eine rebellische. Seinem Ärger verschaffte er vor allem in Sachen Politik Luft. In der Stammbeiz im Dorf oder im Barbershop wetterte er gegen das Salazar-Regime. Denn wie so oft bei faschistischen Regimen leidet das Volk.
Zu Zeiten Salazars hatte Portugal das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen, die höchste Säuglingssterblichkeit, das niedrigste Bildungsbudget und mit 40 Prozent die höchste Analphabeten-Quote in Westeuropa.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg in einigen Teilen Europas die Wirtschaft florierte, lebten die Portugiesen am Existenzminimum. Höhere Ausbildungen und ein Studium konnten sich nur die Reichen leisten. So war es nicht weiter verwunderlich, dass mein Grossvater schier die Galle hochkam und sein Temperament mit ihm durchging.
Mein Vater, das älteste der fünf Kinder, und seine zwei Brüder, die meinen Grossvater oftmals begleiteten, zitterten jedes Mal vor Angst, wenn er wieder mal gegen das Regime stänkerte. Denn im Dorf gab es einen Pide-Spitzel, wenn nicht gar mehrere.
Salazar war ein tiefgläubiger Mann. Aus seiner Biografie geht hervor, dass er gerne Priester geworden wäre, aber die katholische Kirche erkannte sein politisches Talent und förderte dieses dementsprechend. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sein Regime klerikale Züge aufwies und die Kirche eine wichtige Rolle bei der Erhaltung seiner Macht spielte.
Meistens waren seine Spitzel Pfarrer. So auch in meinem Heimatdorf. Mein Vater und seine Geschwister lebten in Angst und Schrecken, dass eines Tages die Geheimpolizei vor der Türe stehen und ihren Vater abführen würde, weil der Dorfpfarrer ihn verpfiffen haben könnte. Der Pfarrer warnte meinen Grossvater auch mehrmals und bat ihn, seinen Mund zu halten.
Denn er hatte Erbarmen mit ihm, weil er fünf Kinder hatte und das jüngste noch ein Baby war. Zudem war der Pfarrer mit meinem Grossvater verwandt – das verschaffte ihm etwas Luft. Er wurde nie verhaftet. Sein Verhalten hinterliess aber tiefe Spuren. Mein Vater wusste, welche Aufgabe auf ihm als Ältester lasten würde, wenn man seinen Vater abführen würde.
Am 25. April 1974 wurde das Regime gestürzt. Mein Vater war zwölf Jahre alt. Fünfeinhalb Jahre später starb mein Grossvater – viel zu früh – im Alter von knapp 52 Jahren an einer Lungenentzündung. Auf einem Bild, das noch heute im Haus meiner Grosseltern steht, wacht er würdevoll über seine Familie. Mein Vater wurde rund zwei Monate nach dem Tod meines Grossvaters volljährig und der Mann im Hause. Es war die Rolle, auf die er sich bereits zu Salazars Zeiten innerlich vorbereitet hatte.
Allerdings: " Denn wie so oft bei kommunistischen Regimen leidet das Volk."
Da ist wohl ein Fehler passiert - Portugal war unter Salazar nicht kommunistisch... Sollte das nicht eher "autoritären Regimen" heissen?
'Denn wie so oft bei kommunistischen Regimen leidet das Volk.'
wtf? ob die autoritäre Herrschaft nun schon faschistisch war oder nicht, darüber kann man vielleicht streiten, aber mit Kommunismus hatte dieses klerikale, koloniale Regime, dass die wirtschaftlichen Interessen der Oberschicht vertrat g nz sicher nichts zu tun.