The Rasmus kennen wir alle. «In the Shadows»? Von 2003? Ein Welthit! Wer war nicht in den kleinen, rabenhaarigen Sänger Lauri Ylönen verliebt? Na? In «Jezebel» besingt Lauri jetzt seine – ich nehme mal an sehr sexuell gemeinte – Obsession mit Jezebel, Fürstin der Finsternis. Massgeschneiderte Düsternummer mit grosser Spotify-Zukunft, ESC hin oder her. Rührend, dass Lauri sich auch mit 43 Jahren noch schwarze Federn ins Haar steckt. Gut, vielleicht auch, weil er weniger Haar hat. Hach, die Finnen!
Das Intro ist eine ganz schöne Hommage an Nina Simones «Feeling Good». Dann übernimmt tendenziell etwas zu quäckiger Discopop. «I.M», also «I Am», von Michael Ben David meint heitere queere Selbstermächtigung. Nach der schwermütigen finnischen Hetero-Unterwerfung ein guter Kontrast.
Konstrakta heisst die strenge Frau, die sich auf der Bühne drei Minuten lang die Hände waschen wird, was in der ESC-Geschichte tatsächlich noch niemand getan hat. Ihr «In corpore sano» sei eine Warnung gegen den allgemeinen Gesundheitswahn, heisst es, das kann von Plant based Chicken bis zu Corona natürlich alles bedeuten. Im Video dazu steht sie in Unterwäsche vor einem Hund (wieso???), wenn sie sich nicht gerade die Hände wäscht. Und wieso bloss verstehe ich immer wieder «Meghan Markle»?
Selbstverständlich habe ich so gut wie alle Folgen von «The Voice of Azerbaijan» gesehen (Quatsch, ich habe bloss daran genascht) und weiss, dass Nadir Rustamli viel mehr kann und eine richtig exaltierte Nummer hätte abliefern können. Doch er wählte eben das brave «Fade to Black» und gibt darin immer dem Wetter die Schuld an allem. Selbst schuld.
2009 wurde Geogien mit dem Titel «We Don't Wanna Put In» vom ESC in Moskau ausgeschlossen. Jetzt ist Russland ausgeschlossen, und «wir wollen keinen Putin», wie der georgische Titel damals verstanden wurde, ist sowas wie der heimliche ESC-Slogan. «Lock Me In» (Schliesst mich ein), von Circus Mircus meint jetzt aber kein Gefängnis, sondern ein Raumschiff. Auf jeden Fall ganz amüsanter Experimental-Pop von ehemaligen Absolventen einer Zirkusschule in Tiflis.
Bis zu 90 Prozent der maltesischen Bevölkerung folgen Jahr für Jahr dem ESC. Das macht rund 472'756 Menschen. Verrückt! Nach «I.M» aus Israel folgt aus Malta das Damenbinden-Werbungs-taugliche «I Am What I Am» von Emma Muscat (was für ein weicher, würziger Name!). Man kann den Menschen schliesslich nicht oft genug sagen, dass sie okay sind, wie sie sind. Manchmal sind sie es aber trotzdem nicht.
Möglicherweise ist «Stripper» von Achille Lauro der schlechteste Beitrag 2022. Was auch eine Leistung ist.
OMG! Schnappatmung! Sheldon Riley sorgt mit Leichtigkeit für den stimmlichen und modischen Höhepunkt von Halbfinale 1 und 2. Sublim! Oder wie unser Profimusiker Oliver Baroni sagt: «Wow, this is good!» Inhaltlich beschreibt «Not the Same» zum x-ten Mal das Schicksal eines gesellschaftlichen Aussenseiters (homosexuell, Asperger Syndrom). Weshalb der sichtlich schüchterne Sänger auch den längsten Teil seiner Performance über eine Maske trägt. Aus Selbstschutz.
Im Video wird sofort klar, dass der serbische Waschzwang bereits auf Zypern angekommen ist, wenn auch nicht ganz so rabiat. Andromache scheint in «Ela» irgendwie unter Frauen gefangen zu sein und sich nach dem einzig Richtigen zu verzehren, was bekanntlich oft zu einer etwas verzerrten Weltsicht führt. Das Lied, das sich darob enstpinnt, glaubt man im heurigen Wettbewerb schon gefühlte 527 Mal gehört zu haben.
Irland ist mit sieben Siegen das erfolgreichste ESC-Land. Allerdings nur bis 1996, danach ging's bergab. Auch Derry-Girl Brooke wird mit «That's Rich» an Punkten nicht reich werden.
Andrea ist definitiv keine Tussi und weiss, was ein 1.-Mai-Demo-Hoodie ist. Andrea hat Beziehungsprobleme und das Gefühl, sie würde mit ihrem Typen oder ihrer Typin in «Circles» um das Immergleiche kreisen. Wieso macht sie dann nicht Schluss? Nicht nervige, aber auch nicht interessante R'n'B-Nummer.
Im vierten Anlauf hat Stefans Lebenstraum, Estland am ESC zu vertreten, endlich erfüllt. Seine Western-Nummer «Hope» (Pferde! Kakteen! Pistolen!) hat durchaus Einzigartigkeitswert und seine Stimme ist von einer unverkennbaren Ultramännlichkeit. Fürs Finale reicht das sicher, möglicherweise in die Top Twelve.
Interpret WRS (ausgesprochen «Urs») hält sich für einen guten Sänger und ausgezeichneten Tänzer. Von aussen lässt sich dies mit viel Alkohol halbwegs bestätigen. «Llámame» bedeutet «Ruf mich an» und ist auch als «Ruf für mich an» zu verstehen. Letzteres dürfte in Form des Televotings eher bescheiden ausfallen.
Ochman will, dass ihn der «River» mitnimmt, davonträgt, ihn allen Scheiss und Stress vergessen lässt und reinigt. Insgesamt klingt das, als müsse der Fluss ein Burnout therapieren, was etwas viel verlangt ist. Psycho-Bombast. Aber wozu?
Vladana mit den dramatischen Augen macht uns klar, dass wir nicht Liebe oder einen Fluss zum Leben brauchen, sondern Luft! Das ist doch mal eine relevante Erkenntnis. «Breathe» heisst denn auch ihr Flehen. Montenegro ist noch nie weit gekommen am ESC, sein bester Platz war der 13., heuer dürfte es nicht ganz so weit reichen.
Schön! «Miss You» könnte für Adele geschrieben worden sein. Ist es aber nicht. Sondern für Profifussballer und Sänger Jérémie Makiese. Alles gut damit, cooler Mann.
Mit sechs Siegen ist Schweden das zweiterfolgreichste Land am ESC. Und enttäuscht auch heuer nicht. Cornelia Jakobs hat eine dieser typisch schwedischen Stimmen. Wie soll man die beschreiben? Irgendwie ... blond und barfuss? Und dann ist «Hold Me Closer» auch noch so entsetzlich romantisch! Zwei verbringen eine letzte Nacht, er wird sie vor Sonnenaufgang verlassen – vielleicht ist er ein Vampir? –, sie wird vor Schmerz vergehen, aber jetzt gerade sind sie glücklich.
We Are Domi arbeiten normalerweise in England, und wahrscheinlich ist «Lights Off» (Licht aus) auch gar nicht so schlecht. Aber wer zuletzt kommt und dann auch noch den Rausschmeisser singen muss, den bestraft ziemlich sicher das Voting.