«Seid ihr heute nicht so gesprächig?» Darum gehe ich nie mehr ins Pilates
Kein super-hippes Velo-Studio, sondern die 0815-Fitnesscenterkette. Die Tür zum kargen Kursraum öffnet sich. Auffallend zielstrebig nehmen alle ihre Plätze ein. Etwa 40 Leute – Frauen und Männer jeden Alters.
Ich suche die Instruktorin. Alexandra ist auf den ersten Blick eher unauffällig. Klein, flink, durchtrainiert.
Mätteli holen, Wasserflasche deponieren. Ich tue so, als ob ich genau wüsste, wie das hier läuft. Ein Teilnehmer hat sich schon ganz vorne gegenüber von Alexandra positioniert. Er strahlt bis über beide Ohren. Ich frage mich, wieso.
Die Stunde beginnt
Alexandra begrüsst uns übertrieben kollegial: «Na, geht es euch gut?» Dann bestimmter:
Ich war noch nie in einer Sportstunde, in der die Menschen gesprächig waren.
Jetzt geht sie auf den Strahlemann in der ersten Reihe zu. «Wie ihr sicher noch wisst, hatte Gonzalo Geburtstag.» Alexandra stimmt langsam an:
Ich schaue in gequälte Gesichter. Wir haben keine Wahl. Verhalten stimmt die Gruppe in Alexandras Gesang mit ein. Kennt hier überhaupt jemand Gonzalo?
Gonzalo strahlt noch ein wenig mehr. Er steht auf und bedankt sich überschwänglich – mehr bei Alexandra als bei der Gruppe.
Nun startet das Training. Schon bei der ersten Übung merke ich, Alexandra redet gern. Sehr gern. Sie kommentiert:
Ich kenne sie nicht. Ahnungslos versuche ich die Verrenkungen von Alexandra nachzumachen.
Es zieht in den Beinen.
Es zieht noch viel mehr.
Ich versuche, zu eruieren, wer Thomas ist. Alexandra will mehr wissen:
Im Gegensatz zu Alexandra reden die anderen in der Gruppe nicht so gern. Für Thomas gibt es keinen Ausweg, er muss sich melden. Er nuschelt etwas vor sich hin.
Alexandra geht zu ihm:
HATTEST DU SCHÖNE FERIEN?»
Jetzt wissen alle, wer Thomas ist.
Unangenehm berührt und leicht ausser Atem erzählt er uns aus der hinteren Reihe von seinen Ferien in Südfrankreich. Er und seine Frau hatten ein Haus gemietet.
Aha.
Das Wetter sei durchzogen gewesen. Sie hätten trotzdem die meiste Zeit am Strand verbracht. Sehr gut gegessen hätten sie. Nur einmal seien sie auf eine Touri-Falle hereingefallen.
Nein!
Mehr kann Alexandra nicht aus ihm herausquetschen. Sie geht zurück zur Matte und zeigt die nächste Übung. Inzwischen befinden wir uns liegend auf dem Rücken, mit aufgestellten Füssen.
Alexandra schaut im Raum umher.
Sie läuft zu Reto. Die ganze Gruppe folgt ihr mit den Augen. Alle wollen wissen, wer Reto ist und was er genau falsch macht.
Dann schreit Alexandra auch schon:
Reto ist ganz hinten in der rechten Ecke des Raums. Wahrscheinlich aus Gründen. Die Übung lässt alle maximal unvorteilhaft aussehen.
Der arme Reto. Jetzt schauen alle auf ihn.
Alexandra steht vor ihn hin und gibt Anweisungen. Reto gibt alles. Gut sieht es nicht aus. Alexandra feuert ihn an. Wir anderen sind froh, dass sie bei Reto ist.
Halbzeit
Ich schaue auf die Uhr. Die Zeit will nicht vergehen. Überraschenderweise wünsche ich mir mehr Sport und weniger Geplänkel. Die leidenden Gesichter um mich herum sprechen Bände. Eigentlich will hier niemand angesprochen werden.
Alexandra fragt in die Runde:
Niemand sagt etwas.
Welche Laura?
Ah, jetzt sehe ich Laura. Sie zögert, zu antworten. Alexandra fragt nochmals nach.
Zu spät.
Alexandra läuft durch die Gruppe. Sie hört nie auf, zu sprechen.
Das nächste Opfer ist Sabrina. Als Alexandra sie anspricht, zuckt Sabrina zusammen.
Alexandra lacht und fügt hinzu:
Sabrina ist anscheinend noch nicht lange dabei. Ob sie ein weiteres Mal kommen wird? Ich habe meine Zweifel.
Alexandra dreht sich wieder zur Gruppe:
«Gell, Reto!»
Die Übungen sind anstrengend. Aber was noch anstrengender ist: Die permanente Angst, von Alexandra herausgepickt und angesprochen zu werden.
Game Over
Nächste Übung. Alexandra kommt auf mich zu. Es war unvermeidlich. Ich bin in der Falle.
Wie heisst du?»
Für einen kurzen Moment überlege ich mir, einen falschen Namen zu sagen. Bei Alexandra werde ich damit wohl kaum durchkommen. Ich gebe nach.
Bitte nicht.
Sie mustert mich.
Ja, das habe ich auch schon gemerkt, jetzt weiss es die ganze Gruppe. Ich lächle verlegen. Danke, Alexandra!
Als nächstes eine Übung für den Beckenboden. Markus hat Mühe, er ist direkt vor mir. Zu spät. Alexandra läuft schon auf ihn zu.
Ich atme auf. Jetzt schauen alle zu Markus.
Markus, jetzt mit hochrotem Kopf, gibt sich grosse Mühe.
Kann er es? Alexandra schüttelt den Kopf. Er kann es nicht.
Alexandra läuft weg. Die Beine von Markus brechen ein, er hat alles gegeben. Respekt, Markus!
Die Stunde ist zu Ende. Wir desinfizieren alle unsere Matten. Niemand sucht Augenkontakt. Alexandra betont, sie freue sich schon auf das nächste Mal.
Ich werde nicht noch einmal kommen. Ich habe zu grosse Angst, da Alexandra jetzt meinen Namen kennt.
Kommentiert, BITTE!