Alles geht besser mit Essen, restlos alles, auch die Schweiz, die Bibel und die Liebe – von «Mini Chuchi, dini Chuchi» (SRF), über «Das letzte Abendmahl» (Leonardo da Vinci) bis hin zur Dinner-Datingshow «First Dates». Doch ganz egal, ob wir bei «MasterChef» oder «Kitchen Impossible», in der «Landfrauenküche» oder bei der Rekonstruktion der scheusslichsten TikTok-Rezepte durch Sir Oliver Baroni sind – alles ist immer sehr gesittet.
Anderswo ist das anders. Südkorea, das Land, das immer wieder für filmische Innovationen und Überraschungen sorgt und in den letzten Jahren u. a. mit «Parasite» und «Squid Game» Welterfolge feierte, erfand vor gut fünfzehn Jahren Mukbang. Der Begriff setzt sich zusammen aus «mokta» (essen) und «bangsong» (senden) und bedeutet somit ziemlich exakt und schlicht «Esssendung». Was einst als Feier von koreanischem Essen auf Internet-TV-Kanälen begann, hat sich zu einem multisensorischen Erlebnis auf YouTube und TikTok entwickelt. Und Mukbang zelebriert genau eines: die absolute Völlerei. Die groteske Übertreibung. Menschenunmöglich viel Essen in sich hineinstopfen.
Südkoreanische und andere asiatische Mukbanger zeichnen sich dadurch aus, dass sie schlank, schön, sportlich (die Männer) und schneewittchenhaft ätherisch (die Frauen) sind. Betrachten wir eines der jüngsten Videos von Sulgi Yang, 29, mit 13,4 Millionen YouTube-Abonnenten.
Sulgi erzählt eine kleine Geschichte: Sie räumt ihre winzige, ganz in Weiss gehaltene Wohnung um, sie trägt dazu ein zartes weisses Kleid, zärtlich poliert sie diverse YouTuberinnen-Trophäen, die sie gewonnen hat. Dann stellt sie sich in ihre Miniaturküche, wäscht Pilze (was man bekanntlich nicht sollte), rüstet Gemüse, ihre Kücheneinrichtung ist ein Fest des Product-Placements und der sich einschmeichelnden Geräusche, denn Mukbang ist ein ASMR-Phänomen, jeder Klang soll sich direkt auf unser Nervensystem übersetzen und physisch spürbar sein. Gehirnmassage.
Es gibt keine Hintergrund-Geräusche, der Ton ist perfekt auf den kurzen, dumpfen Widerstand und das ganz leichte Quietschen beim Schneiden der Austernpilze fokussiert, auf das freudige Aufzischen des Specks in der Pfanne, auf das Aufeinandertreffen von körnigen und flüssigen Bestandteilen beim Mischen von Saucen, was klingt wie eine Welle, die über Muschelkies rollt. Und auf Sulgis Flüstern. Keine Ahnung, wozu man flüstern muss, wenn man übers Kochen redet, doch es tut seine Wirkung, eine flüsternde Stimme klingt feuchter als eine normale, sie ist quasi näher an den Geschmacksnerven, dort, wo einem das Wasser im Mund zusammenläuft, und intimer ist sie auch. Das physische Erleben von Mukbang soll mit dem von Pornografie vergleichbar sein.
Sulgis Saucen und Marinaden sind rotbraun und rot – je rötlicher und oranger das Food, desto beliebter das Video, weiss Mukbang-Junkie Stefanie Sargnagel in ihrem grandiosen neuen Buch «Iowa», auch Farbe erzeugt Sinnesreize und gehört zur ASMR-Erfahrung. Gemüse, Shrimps, diverse Würstchen, solide Specktranchen, Nudeln und Reiskuchen, vieles davon frittiert, werden rot lackiert, bis sie appetitlich glänzen, und ästhetisch auf einer riesigen Platte drapiert. Sie füllt den halben Bildschirm aus. Sie soll ein junges, urbanisiertes, in Klein- oder Einzelhaushalten lebendes Publikum an seine Kindheit erinnern, als viele verschiedene Speisen in der Mitte des Tisches platziert wurden. Und so sind denn auch im Vereinsamungs-Turbo der Pandemie die Mukbang-Videos ums Dreifache explodiert, weiss Sargnagel.
Und dann isst Sulgi. Fast alles. Sie muss dabei nicht würgen und scheint auch nicht zu viel zu kriegen, sie macht das elegant und genüsslich. Das viele Fett neutralisiert Sulgi zwischendurch mit einem herzhaften Biss in eine besonders scharfe Chili. Ein wenig kriegt noch der Kameramann ab, was in den Kommentarspalten zu langen Lobpreisungen von Sulgis Mitmenschlichkeit führt. Ihre Bluse bleibt weiss, nur der kleine Mund im weissen Gesicht gleicht zunehmend dem eines Vampirs.
Sie schmatzt, schlürft, kaut in immer neuen Nuancen, erstaunlich, wie unterschiedlich der Biss in Austern- oder Enoki-Pilze klingt, wie sehr sich das saftige Knacken der Würstchensorten unterscheidet, wie unendlich appetitlich die unterschiedlich knisternden und krachenden Panaden klingen, das macht richtig Lust – wenn da nicht diese pervers grosse Menge wäre. Man denkt unweigerlich an die Lebendexperimente von «Jackass». Oder an die sinnlosen Fressfeste für einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde.
Sulgi tut nur eines nicht: Sie schluckt nichts. Ausser Getränken. Schon lange wird vermutet, dass Sulgi und Leute wie ihr noch erfolgreicherer Kollege Zach Choi, 37, mit 25,4 Millionen Followern auf YouTube, die riesigen Mengen von Essen nicht essen, sondern ausspucken. So wie Sulgis Videos geschnitten sind, wäre das ein Leichtes. 770 dieser Videos hat sie seit 2019 gedreht, sie hätte sich also 770-mal den rund 50-fachen Tagesbedarf an Kalorien zuführen müssen, eine Platte wie die von Sulgi plus Getränke vom Coca-Cola-Konzern (sie sind immer gut erkennbar) wird auf gegen 100'000 Kalorien geschätzt. Zach Choi hat seit 2018 1176 Video gedreht, er ist der Mann fürs Grobe, er vertilgt etwa ein massives Steak mit einer Portion Käse-Kartoffel-Stampf, die für mindestens sechs Personen reichen würde.
Zach Choi und Sulgi Yang wirken jedoch beide äusserst gesund, die Trickserei steht ihnen quasi auf die fitten Körper geschrieben. Ihre Nachahmerinnen und Nachahmer in den USA sind dagegen meist stark übergewichtige Menschen, die sich in ihren Mukbang-Videos das Essen mit aller Macht und gegen den Rat sämtlicher Ärzte nicht verbieten lassen. Fressen als trotzige, tragische Form von vermeintlicher Self Care. Im Gegensatz zu den Kommentarspalten von Zach und Sulgi, die voll sind mit Schwärmereien, strotzen die der Übergewichtigen vor Hass und Verachtung. Das Resultat: noch massiveres Protestessen.
Mukbanger More Nikocado fragt vor einem Video: «Ich wiege 399,9 Pfund. Werde ich nach diesem Mahl endlich 400 Pfund schwer sein?» Die Antwort bleibt er uns schuldig. Doch es ist klar: Im Gegensatz zu Sulgi und Zach betrachtet er sich als authentischen Mukbanger.
Das deutsche Bundeszentrum für Ernährung schlug vor wenigen Tagen Alarm wegen der zunehmenden Mukbang-Welle, die Einladung zu Essstörungen sei übergross, es gäbe als Folge der Videos sowohl die «reduzierte» als auch die «erhöhte» Nahrungsaufnahme. Also Menschen, die den eigenen Konsum durch Videos ersetzen, zugleich ihr eigenes Ekelgefühl vor Essen schüren und magersüchtig werden, und andere, die davon zur Nachahmung angeregt und übergewichtig oder bulimisch werden.
2019 erschütterte übrigens ein Skandal die groteske Welt von Mukbang. Die YouTuberin Ssoyoung (10,6 Millionen Abonnenten) verspeiste einen lebendigen Oktopus, der sich verzweifelt mit seinen Tentakeln in ihrem Gesicht festsog. Der Tierschutz war erschüttert. Kurz darauf vertilgte sie einen ganzen gebrühten Schweinskopf. Südkorea war erschüttert, die Zubereitung war ein Schlag ins Gesicht einer stolzen Food-Nation. Ssoyoung hat sich entschuldigt und frisst sich bis heute wacker durch rotglänzende oder golden frittierte Berge von Essen. Angeblich.