Ihr letztes Ziel war Amerika. Sie hat es nicht mehr erreicht. Denn bevor sich Sarah Biffin in Liverpool auf einen grossen transatlantischen Dampfer tragen oder rollen lassen konnte, starb sie an einer Magenverstimmung. Bereits 15 Tage später, am 17. Oktober 1850, vermeldete die «Neue Zürcher Zeitung» ihren Tod: «Dieser Tage starb in Liverpool, 66 Jahre alt, die berühmte Miniatur-Malerin, Miss Sarah Biffin, welche ohne Hände und Arme geboren war. Sie zeichnete und malte mit den Zehen, und hatte es in ihrer Kunst so weit gebracht, dass sie mehrmals Preise erhielt.»
Leider lag die NZZ falsch. Denn Sarah Biffin war nicht nur «ohne Hände und Arme», sondern auch ohne Füsse und Beine zur Welt gekommen. Ihren grossen Ruhm als Malerin und als Porträtistin von britischen und kontinentalen Royals hatte sie sich nicht mit den Zehen, sondern allein mit dem Mund erarbeitet.
Bereits sechs Tage nach ihrer Geburt am 25. Oktober 1784 in East Quantoxhead (Somerset) wurde Sarah getauft, die Eltern trauten dem kleinen Wesen, dessen Arme als Schulterstummel und dessen Beine knapp unterhalb des Hüftgelenks endeten, keine grossen Überlebenschancen zu. Die Eltern täuschten sich. Denn die Bauerntochter entwickelte sich zu einem intelligenten, leutseligen, allgemein beliebten und überaus sturen Kind, das nicht daran dachte, aufzugeben.
Mit acht Jahren beschloss sie, sich das Nähen beizubringen. Sie übte und übte, bis es ihr gelang, einen Faden mit ihrer Zunge in eine Nadel einzufädeln und ebenfalls mit der Zunge einen Knopf in den Faden zu machen. Sie übte, wie sie eine Schere benutzen konnte, schliesslich gelang es ihr, ihre eigenen Kleider zu schneidern. Mit zwölf hatte sie sich das Schreiben beigebracht, und zwei Jahre später begegnete sie einem Mr. Dukes.
Dukes war Schausteller. Er zog mit menschlichen Attraktionen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, mit Feuerschluckern, Schlangenfrauen, mit besonders geschickten und besonders deformierten Körpern. Er sah das Freak-Potential in Sarah, und Sarah, die es liebte, Menschen zu unterhalten, war begeistert von der Idee, seine neue Attraktion zu werden. Dukes versprach ihren Eltern ein regelmässiges Einkommen und brachte ihr die rudimentärsten Regeln der Miniaturen-Malerei bei, denn der Plan war, dass Sarah auf dem Jahrmarkt kleine Porträts eines natürlich bezahlenden Publikums malen sollte.
Zehn Jahre lang zog die exakt 94 Zentimeter grosse Frau so durch England. Für ihre Pinsel fertigte sie eine spezielle Halterung auf ihrem Ärmel an, sie konnte so einfacher mit dem Mund danach greifen, mit ihrer Staffelei sass sie in einem «komfortablen» Wohnwagen, wie die Jahrmarktswerbung versprach, das Publikum konnte sie dort immer ab Mittag gegen einen Eintritt besuchen, für wenig Geld verkaufte sie Autogramme, für etwas mehr Porträts.
Die Miniaturen waren mit Aquarellfarbe auf wenige Quadratzentimeter grosse Elfenbeinplättchen gemalt. Damit die Farbe überhaupt hielt, wurden die Plättchen entfettet und mit Hilfe von Tierzähnen aufgeraut, dann wurde die Farbe mit haarfeinen Pinseln in tausenden Pünktchen aufgetüpfelt. Die Bildchen waren sehr begehrt als Geschenke und Auszeichnungen, man konnte sie in Form eines Medaillons als Schmuck tragen und unkompliziert als Andenken an die Zuhausegebliebenen auf eine Reise mitnehmen.
Dukes versprach, allen, die von Sarahs Fähigkeiten enttäuscht sein und sich nicht in ihren Porträts erkennen würden, eine Entschädigung zu bezahlen. Niemand hatte eine nötig. Sie selbst liebte das Jahrmarktsleben, aber mit ihrer finanziellen Ausbeute war sie nicht zufrieden, denn Dukes, der mit dem Verkauf ihrer Kunst und ihrer Autogramme sehr viel Geld verdiente, bezahlte ihr nur ein äusserst bescheidenes Gehalt.
Saraf Biffin war eine gute Miniaturmalerin und eine hervorragende Jahrmarkts-Attraktion, die bald als «achtes Weltwunder» angepriesen wurde, aber sie war noch keine Meisterin.
Dies änderte sich, als der 16. Earl of Morton 1808 eine ihrer Vorstellungen besuchte. Denn er sah in Sarah nicht den Freak, sondern die Künstlerin. Er zeigte ihre Arbeiten dem amtierenden König George III., und die beiden beschlossen, Sarah eine Ausbildung bei einem renommierten Maler zu ermöglichen. Der Earl wurde zu ihrem Mäzen und bezahlte ihr ein Atelier mitten in London. Ihre Kundinnen und Kunden kamen aus ganz England und 1821 wurde sie vom Hof mit einer Medaille für ihre aussergewöhnliche Kunst gewürdigt. Im selben Jahr bat sie der Kronprinz der Niederlande um ein Porträt und sie reiste nach Europa.
Neben den Menschen, die ihr viel Geld für Porträts bezahlten und sie zu einer reichen Frau machten, waren ihre Lieblingssujets Vogelfedern. Zarte, bunte, einheimische, exotische, es war, als würde sie sich inmitten der Federn aus ihrer eigenen irdischen Beschränktheit befreien, sich erheben, fliegen.
Am wenigsten ist über ihre Ehe bekannt. Nur dies: Sarah Biffin hatte einen Fan mit dem Allerweltsnamen William Wright, die einen sagen, er sei ein ehemaliger Marine-Soldat, die anderen, er sei ein gescheiterter Banker, der sie so lange umschwärmte und verwöhnte, bis die beiden im September 1824 verheiratet waren. Dann war er auch schon wieder verschwunden und natürlich verschwand mit ihm auch der grösste Teil des Vermögens seiner Frau, denn schliesslich hatte er als Gatte ein Recht darauf.
Und dann starb auch noch ihr Mäzen. Sarah Biffin, die so berühmt war, dass Charles Dickens sie bereits in drei seiner Romane (nicht besonders nett) verwertet hatte, glaubte, alles verloren zu haben.
Und so begann sie jetzt neben der Malerei auch noch zu unterrichten und unternahm alles, um ihre Beziehungen zum Hof und zur besseren Gesellschaft zu verstärken. Sie malte die Mathematikerin Ada Lovelace, die als Erfinderin des ersten «Computers» gilt, sie malte Könige und Prinzessinnen und Prinzen – und selbst von der jungen Queen Victoria schuf sie 1848 ein entzückendes Porträt.
Wahrscheinlich sass ihr die Queen dafür jedoch nicht Modell, Biffin hat mit grosser Wahrscheinlichkeit ein bereits existierendes Porträt graziös adaptiert und aus dem ursprünglichen Thronsaal eine Theaterloge samt Balustrade mit Programmheft und Fächer gemacht.
Sie zog von London nach Birmingham und dann ins modische Seebad Brighton, wo König George IV. ein Lustschloss im indischen Stil für sich und seine Geliebte hatte bauen lassen.
Miniaturen, wie Sarah Biffin sie malte, galten damals als Nebenlinie der grossformatigen Ölmalerei. Als technisch höchst anspruchsvolle und sogenannt «intime» Kunst. Privat, nicht repräsentativ. Und gerade deshalb so beliebt. Weil das grosse Publikum das Gefühl hatte, die berühmten Porträtierten in einem gelösten, vertraulichen, nicht öffentlichen Moment zu sehen. Miniaturen waren die Vorgängerkunst der Fotografie.
Genau dies wurde zu Sarah Biffins Problem. Denn neben ihrer abnehmenden Sehkraft, neben dem immer schnelleren Ermüden ihrer Zungenmuskulatur wurde die Fotografie immer populärer und verdrängte die Miniaturen. Zuletzt lebte sie von einer Rente, die ihr Queen Victoria ausstellte.
Doch sie dachte noch immer nicht ans Aufgeben, denn sie hatte – mit über 60 Jahren – einen Traum: Amerika. Sie hatte gehört, dass Menschen mit ihrer Beeinträchtigung dort ganz neue technische und gesellschaftliche Möglichkeiten hätten. Sie zog nach Liverpool. Und von dort aus wollte sie nach Amerika und in ein neues, freieres, federleichtes Leben.
1850 brach die schwedische Opernsängerin Jenny Lind von Liverpool aus zu ihrer triumphalen, 150 Konzerte langen Tour durch Amerika auf. Nur wenige Monate später wollte auch Sarah Biffin zu ihrem letzten grossen Abenteuer aufbrechen. Sie hatte wie immer Pläne und glaubte fest daran, dass auch diese sich erfüllen liessen. Es blieb ihr verwehrt.
Diesem Artikel liegen Essays, Artikel und Podcasts u. a. aus dem Archiv der NZZ, aus der «Financial Times», dem «Guardian» etc. zugrunde und das Material, das die Londoner Gallerie Philip Mould & Company im Zuge ihrer bahnbrechenden Ausstellung über Sarah Biffin 2022 zur Verfügung stellte.
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