Leben
Frauen der Geschichte

Sarah Biffin hatte keine Arme und Beine und machte Karriere als Malerin

Sarah Biffin, a limbless artist. Lithograph by G. Engelmann.
Sarah Biffin war «the limbless artist», die gliederlose Künstlerin. Und so wurde sie von einem anderen Künstler namens Godefroy Engelmann viele Jahre nach ihrem Tod gesehen.Bild: www.imago-images.de
Frauen der Geschichte

Sie hatte keine Arme und Beine – und malte trotzdem die Porträts der Royals

Dies ist die erstaunliche und ermutigende Geschichte von Sarah Biffin, die sich durch überhaupt kein Hindernis einschüchtern liess.
17.11.2024, 16:1117.11.2024, 16:45
Simone Meier
Mehr «Leben»

Ihr letztes Ziel war Amerika. Sie hat es nicht mehr erreicht. Denn bevor sich Sarah Biffin in Liverpool auf einen grossen transatlantischen Dampfer tragen oder rollen lassen konnte, starb sie an einer Magenverstimmung. Bereits 15 Tage später, am 17. Oktober 1850, vermeldete die «Neue Zürcher Zeitung» ihren Tod: «Dieser Tage starb in Liverpool, 66 Jahre alt, die berühmte Miniatur-Malerin, Miss Sarah Biffin, welche ohne Hände und Arme geboren war. Sie zeichnete und malte mit den Zehen, und hatte es in ihrer Kunst so weit gebracht, dass sie mehrmals Preise erhielt.»

Leider lag die NZZ falsch. Denn Sarah Biffin war nicht nur «ohne Hände und Arme», sondern auch ohne Füsse und Beine zur Welt gekommen. Ihren grossen Ruhm als Malerin und als Porträtistin von britischen und kontinentalen Royals hatte sie sich nicht mit den Zehen, sondern allein mit dem Mund erarbeitet.

Bereits sechs Tage nach ihrer Geburt am 25. Oktober 1784 in East Quantoxhead (Somerset) wurde Sarah getauft, die Eltern trauten dem kleinen Wesen, dessen Arme als Schulterstummel und dessen Beine knapp unterhalb des Hüftgelenks endeten, keine grossen Überlebenschancen zu. Die Eltern täuschten sich. Denn die Bauerntochter entwickelte sich zu einem intelligenten, leutseligen, allgemein beliebten und überaus sturen Kind, das nicht daran dachte, aufzugeben.

Sarah Biffin. Watercolour by Sarah Biffin. Copyright: xpiemagsx
Frühes Selbstporträt von Sarah Biffin.Bild: www.imago-images.de

Mit acht Jahren beschloss sie, sich das Nähen beizubringen. Sie übte und übte, bis es ihr gelang, einen Faden mit ihrer Zunge in eine Nadel einzufädeln und ebenfalls mit der Zunge einen Knopf in den Faden zu machen. Sie übte, wie sie eine Schere benutzen konnte, schliesslich gelang es ihr, ihre eigenen Kleider zu schneidern. Mit zwölf hatte sie sich das Schreiben beigebracht, und zwei Jahre später begegnete sie einem Mr. Dukes.

Dukes war Schausteller. Er zog mit menschlichen Attraktionen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, mit Feuerschluckern, Schlangenfrauen, mit besonders geschickten und besonders deformierten Körpern. Er sah das Freak-Potential in Sarah, und Sarah, die es liebte, Menschen zu unterhalten, war begeistert von der Idee, seine neue Attraktion zu werden. Dukes versprach ihren Eltern ein regelmässiges Einkommen und brachte ihr die rudimentärsten Regeln der Miniaturen-Malerei bei, denn der Plan war, dass Sarah auf dem Jahrmarkt kleine Porträts eines natürlich bezahlenden Publikums malen sollte.

SARAH BIFFEN. Sarah Biffin / Self-portrait in front of the easel, c. 1821. Credit: Album
Späteres Selbstporträt der Künstlerin, bemerkenswert ist hier der am Ärmel befestigte Pinsel.Bild: www.album-online.com

Zehn Jahre lang zog die exakt 94 Zentimeter grosse Frau so durch England. Für ihre Pinsel fertigte sie eine spezielle Halterung auf ihrem Ärmel an, sie konnte so einfacher mit dem Mund danach greifen, mit ihrer Staffelei sass sie in einem «komfortablen» Wohnwagen, wie die Jahrmarktswerbung versprach, das Publikum konnte sie dort immer ab Mittag gegen einen Eintritt besuchen, für wenig Geld verkaufte sie Autogramme, für etwas mehr Porträts.

Die Miniaturen waren mit Aquarellfarbe auf wenige Quadratzentimeter grosse Elfenbeinplättchen gemalt. Damit die Farbe überhaupt hielt, wurden die Plättchen entfettet und mit Hilfe von Tierzähnen aufgeraut, dann wurde die Farbe mit haarfeinen Pinseln in tausenden Pünktchen aufgetüpfelt. Die Bildchen waren sehr begehrt als Geschenke und Auszeichnungen, man konnte sie in Form eines Medaillons als Schmuck tragen und unkompliziert als Andenken an die Zuhausegebliebenen auf eine Reise mitnehmen.

“Sarah Biffin em Bury Fair” (1810), de Frances Cooper.
Hier malte sie Frances Cooper 1810 auf einem Jahrmarkt. Hinter ihr hängen einige ihrer Miniaturen an der Wand.Bild: instagram / mapadasartesoficial

Dukes versprach, allen, die von Sarahs Fähigkeiten enttäuscht sein und sich nicht in ihren Porträts erkennen würden, eine Entschädigung zu bezahlen. Niemand hatte eine nötig. Sie selbst liebte das Jahrmarktsleben, aber mit ihrer finanziellen Ausbeute war sie nicht zufrieden, denn Dukes, der mit dem Verkauf ihrer Kunst und ihrer Autogramme sehr viel Geld verdiente, bezahlte ihr nur ein äusserst bescheidenes Gehalt.

Saraf Biffin war eine gute Miniaturmalerin und eine hervorragende Jahrmarkts-Attraktion, die bald als «achtes Weltwunder» angepriesen wurde, aber sie war noch keine Meisterin.

Dies änderte sich, als der 16. Earl of Morton 1808 eine ihrer Vorstellungen besuchte. Denn er sah in Sarah nicht den Freak, sondern die Künstlerin. Er zeigte ihre Arbeiten dem amtierenden König George III., und die beiden beschlossen, Sarah eine Ausbildung bei einem renommierten Maler zu ermöglichen. Der Earl wurde zu ihrem Mäzen und bezahlte ihr ein Atelier mitten in London. Ihre Kundinnen und Kunden kamen aus ganz England und 1821 wurde sie vom Hof mit einer Medaille für ihre aussergewöhnliche Kunst gewürdigt. Im selben Jahr bat sie der Kronprinz der Niederlande um ein Porträt und sie reiste nach Europa.

Neben den Menschen, die ihr viel Geld für Porträts bezahlten und sie zu einer reichen Frau machten, waren ihre Lieblingssujets Vogelfedern. Zarte, bunte, einheimische, exotische, es war, als würde sie sich inmitten der Federn aus ihrer eigenen irdischen Beschränktheit befreien, sich erheben, fliegen.

Sarah Biffin
Federn. Sarah Biffins berührendes Lieblingssujet.Bild: instagram / jeremiahmeyersminiatures

Am wenigsten ist über ihre Ehe bekannt. Nur dies: Sarah Biffin hatte einen Fan mit dem Allerweltsnamen William Wright, die einen sagen, er sei ein ehemaliger Marine-Soldat, die anderen, er sei ein gescheiterter Banker, der sie so lange umschwärmte und verwöhnte, bis die beiden im September 1824 verheiratet waren. Dann war er auch schon wieder verschwunden und natürlich verschwand mit ihm auch der grösste Teil des Vermögens seiner Frau, denn schliesslich hatte er als Gatte ein Recht darauf.

Und dann starb auch noch ihr Mäzen. Sarah Biffin, die so berühmt war, dass Charles Dickens sie bereits in drei seiner Romane (nicht besonders nett) verwertet hatte, glaubte, alles verloren zu haben.

Und so begann sie jetzt neben der Malerei auch noch zu unterrichten und unternahm alles, um ihre Beziehungen zum Hof und zur besseren Gesellschaft zu verstärken. Sie malte die Mathematikerin Ada Lovelace, die als Erfinderin des ersten «Computers» gilt, sie malte Könige und Prinzessinnen und Prinzen – und selbst von der jungen Queen Victoria schuf sie 1848 ein entzückendes Porträt.

Queen Victoria, 1848, by Sarah Biffin
So malte Biffin 1848 die junge Queen Victoria.Bild: via artnet.com

Wahrscheinlich sass ihr die Queen dafür jedoch nicht Modell, Biffin hat mit grosser Wahrscheinlichkeit ein bereits existierendes Porträt graziös adaptiert und aus dem ursprünglichen Thronsaal eine Theaterloge samt Balustrade mit Programmheft und Fächer gemacht.

Currier & Ives Illustration. Queen Victoria Currier & Ives Illustration 19th Century. Queen Victoria World History Archive PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xPhoto12/AnnxRonanxPicture ...
Und so hatten die bekannten Illustratoren Currier & Ives Queen Vicoria in den 1840er-Jahren, höchstwahrscheinlich vor Biffin, gemalt.Bild: www.imago-images.de

Sie zog von London nach Birmingham und dann ins modische Seebad Brighton, wo König George IV. ein Lustschloss im indischen Stil für sich und seine Geliebte hatte bauen lassen.

Miniaturen, wie Sarah Biffin sie malte, galten damals als Nebenlinie der grossformatigen Ölmalerei. Als technisch höchst anspruchsvolle und sogenannt «intime» Kunst. Privat, nicht repräsentativ. Und gerade deshalb so beliebt. Weil das grosse Publikum das Gefühl hatte, die berühmten Porträtierten in einem gelösten, vertraulichen, nicht öffentlichen Moment zu sehen. Miniaturen waren die Vorgängerkunst der Fotografie.

Sarah Biffin
Und noch einmal wunderschöne Federn.Bild: instagram / my_atg

Genau dies wurde zu Sarah Biffins Problem. Denn neben ihrer abnehmenden Sehkraft, neben dem immer schnelleren Ermüden ihrer Zungenmuskulatur wurde die Fotografie immer populärer und verdrängte die Miniaturen. Zuletzt lebte sie von einer Rente, die ihr Queen Victoria ausstellte.

Doch sie dachte noch immer nicht ans Aufgeben, denn sie hatte – mit über 60 Jahren – einen Traum: Amerika. Sie hatte gehört, dass Menschen mit ihrer Beeinträchtigung dort ganz neue technische und gesellschaftliche Möglichkeiten hätten. Sie zog nach Liverpool. Und von dort aus wollte sie nach Amerika und in ein neues, freieres, federleichtes Leben.

1850 brach die schwedische Opernsängerin Jenny Lind von Liverpool aus zu ihrer triumphalen, 150 Konzerte langen Tour durch Amerika auf. Nur wenige Monate später wollte auch Sarah Biffin zu ihrem letzten grossen Abenteuer aufbrechen. Sie hatte wie immer Pläne und glaubte fest daran, dass auch diese sich erfüllen liessen. Es blieb ihr verwehrt.

Diesem Artikel liegen Essays, Artikel und Podcasts u. a. aus dem Archiv der NZZ, aus der «Financial Times», dem «Guardian» etc. zugrunde und das Material, das die Londoner Gallerie Philip Mould & Company im Zuge ihrer bahnbrechenden Ausstellung über Sarah Biffin 2022 zur Verfügung stellte.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
History Porn Teil XVI: Geschichte in 25 Wahnsinns-Bildern
1 / 26
History Porn Teil XVI: Geschichte in 25 Wahnsinns-Bildern
Die «23rd Headquarters Special Troops» war eine 1100 Mann starke US-amerikanische Einheit im Zweiten Weltkrieg. Sie ist besser bekannt unter dem Namen «Ghost Army». Denn die Männer – Künstler, Schauspieler und Designer – waren dafür verantwortlich, mit aufblasbaren Gummipanzern, Jeeps, Flugzeugen und Kommandoposten, mit überdimensionalen Lautsprechern für simulierte Gefechtsgeräusche und fingierten Funksprüchen die deutschen Wehrmachtstruppen in die Irre zu führen. «Sie operierten wie eine Roadshow auf Reisen, bauten für einige Tage mitten auf dem Schlachtfeld Attrappen auf und zogen dann weiter», erklärt US-Journalist Rick Beyer. bild: pinterest ... Mehr lesen
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Frauen lassen sich Serienmörderin tätowieren – Das steckt hinter dem Aqua-Tofana-Trend
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
17 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Butschina
17.11.2024 16:38registriert August 2015
Danke für den Artikel. Ich kannte sie bisher nicht. Ihre Bilder sinf mega schön.
667
Melden
Zum Kommentar
avatar
Shazuu
17.11.2024 17:28registriert Januar 2022
Was für ein interessanter und schöner Artikel, bitte mehr davon (hab genug von Politik, Mord und Lügen).
515
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pebbles F.
17.11.2024 18:04registriert Mai 2021
Merci, Simone Meier, dass Du uns die Geschichte der Künstlerin erzählt hast! Ich hatte bis heute keine Kenntnis davon. Du leistest hier eine spannende Aufdeckarbeit und schreibst auf eine Art, dass ich immer mehr lesen möchte.
Hier: 🌺
433
Melden
Zum Kommentar
17
Radfahren im Winter: So bleibst du sicher auf Schnee und Eis
Schnee, Eis, Glätte: Radfahrer müssen sich winterfest machen. Wie bleibt man sicher im Sattel, wenn der Boden zur Rutschbahn wird?

Viele Radfahrer sitzen das ganze Jahr über im Sattel – denn mit den richtigen Vorbereitungen lässt sich das Fahrrad das ganze Jahr über nutzen. Gefährlich wird es jedoch bei Schnee oder Blitzeis. Wie du dich als Radfahrer bei winterlichen Strassenverhältnissen richtig verhälst und worauf du achten solltest.

Zur Story