Ein US-Präsident und sein Mörder: Netflix holt zwei Vergessene zurück
«Dies ist eine wahre Geschichte zweier Männer, die die Welt vergessen hat. Der eine war der 20. Präsident der Vereinigten Staaten. Der andere hat ihn erschossen.»
Mit diesen Worten beginnt «Death by Lightning», eine vierteilige Netflix-Serie. Als Zuschauer ist man ebenso irritiert wie angefixt. Vier US-Präsidenten fielen einem Mordanschlag zum Opfer. Zwei wurden zu Lichtgestalten (Abraham Lincoln und John F. Kennedy), ein weiterer (William McKinley) ist ein Idol des amtierenden Bewohners des Weissen Hauses.
Bleibt James Garfield. «Who the hell is Garfield?», fragt sich ein Typ, als der kaum bekannte Kongressabgeordnete aus Ohio am Parteikonvent der Republikaner 1880 in Chicago völlig unerwartet als Präsidentschaftskandidat nominiert wird. Der verblüffte Zaungast heisst Charles Guiteau. Er sollte Garfield einige Monate später eine Kugel in den Rücken jagen.
Revival von Gewalt und Korruption
Garfield und Guiteau – selbst in den USA können nur wenige etwas mit diesen Namen anfangen. Die einleitende Szene der Miniserie von Mike Makowsky zeigt dies mit einem raffinierten Twist. Die Geschichte und die Welt haben den 20. US-Präsidenten und seinen Mörder tatsächlich vergessen. Nun werden sie auf exzellente Weise «reanimiert».
Das liegt nicht nur an den beiden in mancher Hinsicht faszinierenden Figuren. Ihre Story enthält verblüffende Parallelen zur heutigen Zeit, in der politische Gewalt in Amerika wieder «salonfähig» wird (siehe die Attentate auf Donald Trump und Charlie Kirk). Und in der Korruption und Machtmissbrauch ein Revival erleben, das an das 19. Jahrhundert erinnert.
Das «Gilded Age»
Deshalb erst ein historischer Exkurs: Nach dem Sezessionskrieg erlebten die USA einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung, der als «Gilded Age» in die Geschichte einging (man denkt auch hier unweigerlich an Trump). Gleichzeitig grassierte in der Politik die Korruption. Die grossen Parteien wurden zu Maschinen der Selbstbereicherung.
Das galt auch für Abraham Lincolns Republikaner, besonders während der Präsidentschaft des siegreichen Bürgerkriegs-Generals Ulysses Grant. Sein Nachfolger Rutherford Hayes warf nach nur einer Amtszeit das Handtuch, sodass die Partei für die Wahlen 1880 einen neuen Kandidaten benötigte. Vorwahlen gab es in jener Zeit noch nicht.
Garfields flammende Rede
Der Kandidat wurde am Parteitag in Chicago bestimmt. Ulysses Grant strebte eine dritte Amtszeit an, unterstützt von den mächtigen New Yorkern um den skrupellosen Senator Roscoe Conklin. Die aussichtsreichsten Herausforderer waren Senator James Blaine aus Maine und Finanzminister John Sherman, der Bruder eines weiteren Bürgerkriegs-Generals.
Als Nominationsredner entschied sich Sherman für den 48-jährigen Farmer und Abgeordneten James Garfield. Dieser hatte selbst keine Ambitionen, doch er hielt eine flammende Rede, in der er die Korruption geisselte und an Lincolns Vermächtnis appellierte. Damit begeisterte er die Delegierten. Im Laufe des langen Wahlprozedere sammelte er immer mehr Stimmen.
Im 36. Wahlgang nominiert
Weil sich keiner der Favoriten absetzen konnte, wurde der Nobody Garfield im 36. (!) Wahlgang völlig überraschend nominiert. Er akzeptierte die Kandidatur widerwillig und musste hinnehmen, dass ihm zur Wahrung des Parteifriedens Roscoe Conklins rechte Hand als Vizepräsident zur Seite gestellt wurde, der versoffene und korrupte Chester Arthur.
Als Stütze und enger Vertrauter erwies sich hingegen James Blaine. Nach einem eher zurückhaltenden Wahlkampf wurde der kurz zuvor noch ziemlich obskure James Garfield zum Präsidenten gewählt. Einen grossen Anteil daran hatte Charles Guiteau – zumindest glaubte er das. Nun erwartete er eine Belohnung, etwa einen Botschafterposten im Ausland.
Teil eines Sexkults
Guiteau war das Paradebeispiel einer gescheiterten Existenz. Er ging nie einer geregelten Arbeit nach und verbrachte einige Jahre in der Oneida Community, einem frühen Sexkult, ohne «zum Zug» zu kommen. Gleichzeitig hatte er einen enormen Geltungsdrang und diente sich Garfields Wahlkampfteam an, doch der Angeber wurde nicht ernst genommen.
In der Serie schafft er es zu einer – vermutlich fiktiven – Audienz bei Präsident Garfield im Weissen Haus. Danach musste Guiteau einsehen, dass niemand auf ihn gewartet hatte. Und das Unheil nahm seinen Lauf. Dabei hatten Garfields Bemühungen, die Korruption zu bekämpfen, erste Erfolge gezeigt. So wurde sein «Erzfeind» Conklin kaltgestellt.
Hochkarätige Darsteller
Die Netflix-Serie schildert diese faszinierende Episode aus einer fernen und doch so aktuell wirkenden Zeit mit visueller und dramaturgischer Wucht. Dazu trägt die in jeder Hinsicht hochkarätige Besetzung bei. Michael Shannon ist als James Garfield ebenso grandios wie der derzeit fast omnipräsente Brite Matthew Macfadyen in der Rolle des Hochstaplers Guiteau.
Selbst die Nebenrollen sind oberste Güteklasse: Betty Gilpin spielt die zweifelnde First Lady Lucretia Garfield. Shea Whigham passt zur Rolle des schmierigen Roscoe Conklin perfekt. Gleiches gilt für Bradley Whitford als aufrechter James Blaine. Und Nick Offerman erlebt als Chester Arthur eine Läuterung. Als Nachfolger Garfields setzt er dessen Politik fort.
Mehrwöchiger Todeskampf
Denn gerade als der Präsident mit seinen Reformen durchstarten will, erschiesst ihn der wütende Charles Guiteau im Bahnhof von Washington. Nach einem mehrwöchigen Todeskampf stirbt Garfield, und das nicht etwa an der Kugel im Rücken, sondern an mehrfachen und unhygienischen Versuchen, sie unter höllischen Schmerzen zu entfernen.
Nicht alles an der Serie ist perfekt. Sie verschweigt, dass Garfields Ehe durch seine Untreue belastet wurde. Und eine Geisteskrankheit von Guiteau wird nur angedeutet, obwohl ein Gutachten zu diesem Schluss kam. Das hätte ihm schon damals die Hinrichtung erspart, doch ein Präsidentenmörder durfte nicht davonkommen. So endete er am Galgen.
Ein «verlorener» Präsident
Kurz zuvor erhält Charles Guiteau Besuch von Lucretia Garfield. Er hatte gehofft, mit der Veröffentlichung seines Tagebuchs wenigstens posthum berühmt zu werden, doch die Witwe erklärt ihm eiskalt, sie werde dies verhindern. Und sie gesteht offen, ihren Mann belogen zu haben, als dieser auf dem Totenbett die Hoffnung äusserte, nicht vergessen zu werden.
Lucretia, die ihren Mann um 36 Jahre überlebte, sollte recht behalten. James Garfield reihte sich ein in die Riege der «verlorenen» US-Präsidenten. Die Netflix-Serie, die an einem Abend «gebinged» werden kann, wird hoffentlich dazu beitragen, diesen aufrechten Kämpfer gegen die Korruption auch vor dem heutigen Hintergrund aus der Versenkung zu holen.
Es erstaunt nicht, dass «Death by Lightning» (Garfield bezeichnet in der Serie ein Attentat als ähnlich wahrscheinlich wie den Tod durch Blitzschlag) in den USA positiv rezensiert wurde. Guiteau-Darsteller Matthew Macfadyen brachte es im gemeinsamen Interview mit Michael Shannon für die «New York Times» auf den Punkt: «Bemüht euch, wie Garfield zu werden.»
«Death by Lightning» läuft auf Netflix
