Neulich war ich an einem Konzert von Helene Fischer. Nicht ganz freiwillig, als Begleitperson, aber natürlich war ich neugierig auf das Phänomen und seine Funktionsweise. Und ich muss schon sagen, das Phänomen lieferte drei atemlose Stunden lang ab und ich erschrak, wie viele Hits von Helene Fischer sich bereits in meinem passiven Musikgedächtnis einsortiert hatten.
Einer davon hiess «Regenbogenfarben». Quasi die Schlagerversion unseres Kinderlieds vom «Räääägeboge», ihr wisst schon, «mini Farb und dini, das git zäme zwee», und es war sonnenklar, welchen Regenbogen Helene Fischer da meinte. Sie hielt dann auch noch eine kleine Ansprache für Inklusion, Toleranz und überhaupt Zwischenmenschlichkeit, junge Menschen schwenkten ihre Regenbogenfahnen – und ältere, von denen ich dachte, dass sie bis ans Grab Läderach-Fans bleiben, und dies nicht nur wegen der Schoggi, nickten und sagten: «Jawoll, das finde ich auch ganz wichtig.»
Als überhaupt nicht heterosexueller Mensch fand ich das nice und dachte, dass genau dies die Macht eines Popstars ist, nämlich alle möglichen Menschen in einem Moment geteilter Euphorie friedlich zu vereinen, sie schon fast in eine Umarmung zu zwingen und damit das Verständnis füreinander zu fördern. Keinen Augenblick lange wäre ich auf die Idee gekommen, Helene Fischer für lesbisch zu halten. So, wie es die «New York Times» gerade mit Taylor Swift tut.
«Look What We Made Taylor Swift Do» – Schaut, was wir Taylor Swift zu tun gezwungen haben – heisst der Gastbeitrag vom 4. Januar, der seither für weltweite Entgeisterung bis Empörung sorgt und der eigentliche Grund dafür sein dürfte, wieso Taylor Swift an den Golden Globes so saumässig schlechte Laune hatte.
In einem 30'000 Anschläge oder 5000 Worte langen Text unterstellt die Verfasserin Anna Marks darin Taylor Swift, queer zu sein und das Coming-out aus ihrem goldenen Erfolgskäfig nicht zu wagen, obwohl sie dies der queeren Community doch eigentlich schuldig wäre.
Die Beweise für ihre steile These sieht sie in Dutzenden von Songtexten (Marks muss ein eingefleischter Swiftie sein), in Auftritten, die Swift an für die LGBTQ+-Szene bedeutenden Orten gemacht hat, in regenbogenfarbigen Kostümen, die sie auf der Bühne getragen und in Gesten und Erklärungen, die sie gemacht hat. Und all dies «bewusst oder unbewusst»!
«Wie Haarnadeln» habe Taylor Swift in all den Jahren ihrer Karriere die Andeutung auf ihre wahre sexuelle Identität fallen lassen, schreibt sie, jetzt sei es endlich Zeit für die grosse Befreiung.
Sie eröffnet ihren Beitrag mit der Geschichte der lesbischen Country-Sängerin Chely Wright (auch Swift kommt ja aus der Country-Ecke), die sich 2006 aus lauter Unglück erschiessen wollte. «Country ist wie das Militär», schrieb Wright später, «frag nichts, sag nichts.»
Das ist natürlich tragisch, doch Marks hätte auch mit der Geschichte der ebenfalls aus der restriktiven Country-Szene stammenden K.D. Lang beginnen können. Sie hatte 1992 während eines Radiointerviews ihr Coming-out und wurde zum ersten offen lesbischen Weltstar. Dusty Springfield hatte sich in den Siebzigern als bisexuell geoutet. Madonna, an der damals noch der Feenstaub der Bisexualität klebte, sagte über Lang: «Elvis lebt und sie ist wunderschön.»
Es gibt schlechte Geschichten. Und es gibt gute. Doch Marks will Taylor Swift, der Frau, die in den letzten Jahren so viele Hindernisse überwunden und ihren Platz in der Musikbranche neu definiert hat, die sich politisch endlich pointiert zu äussern wagt, unbedingt wieder in ein Opferkorsett zwingen. Deshalb flicht sie Swift in ein Gespinst aus schlechten Geschichten ein. Ausgerechnet Swift, die sich seit Jahren lautstark für queere Anliegen einsetzt und der Community mit ihren Konzerten wie Helene Fischer einen Safe Space bereiten will.
Selbstverständlich wissen nur die Menschen, die tatsächlich ihr Bett mit Taylor Swift teilen oder geteilt haben, wie es um ihre sexuelle Orientierung steht. Also aktuell Travis Kelce und in der Vergangenheit etwa Jake Gyllenhaal, Taylor Lautner, Tom Hiddleston, Joe Jonas, Calvin Harris, Harry Styles ... Okay, Frau Marks sieht hinter Swifts Vielerlei vom Mann natürlich einzig eine strategische Fassadenkleisterei.
Doch mal angenommen, auf einem fernen, von nonbinären Einhörnern und pansexuellen Eichhörnchen betreuten Planeten wäre Taylor Swift tatsächlich mehr als nur heterosexuell (wieso nehme ich Frau Marks eigentlich gerade ernst?), so käme der Artikel in der «New York Times» einem Zwangs-Outing gleich. Was etwas vom Schlimmsten ist, was man einer Person antun kann, die sich nicht outen will, und was nicht einmal mehr der Krawall-Boulevard macht.
Ein Flirt von Pop und queerer Szene, ein Austausch der Verbundenheitszeichen und «Easter eggs», ein Übersetzen von Songs in Hymnen der Ermächtigung ist seit Jahrzehnten normal. Denn die queere Szene ist nun mal – gerade, was weibliche Superstars betrifft – die treuste und die begeisterungsfähigste und der glitzernde Kern dessen, was Pop ausmacht. Der Kuss von Madonna und Britney Spears, «I Kissed a Girl» von Katy Perry, jedes einzelne Kostüm von Kylie Minogue, Helene Fischers «Regenbogenfarben» sind süsse Verneigungen der Stars an die Community. Aber keine geheimen Hilferufe!
Zu sagen: «Ich wünschte mir, Taylor Swift würde auch auf Frauen stehen» ist ebenfalls normal. Zu sagen: «Taylor Swift ist queer und schuldet uns ihr Coming-out, weil sie sonst weiterhin zur Verlogenheit der Welt und zur Unterdrückung queerer Menschen beiträgt» (dies ist kein Zitat aus Marks' Text, sondern eine Zusammenfassung) ist anmassend, dreist und himmelschreiender Quatsch, der einer vertrauenswürdigen Zeitung wie der «New York Times» schlecht ansteht. Und aus.
Es darf und soll jede und jeder lieben, wen er und sie möchte, solange alle alt genug und im Konsens sind.
Jede Aufforderung zu irgendwelchen Coming-outs und Statements ist extrem übergriffig, unerträglich und verabscheuungswürdig.
Solange wir noch darüber diskutieren, ob jemand queer oder straight ist, gibt es auch dieses polarisierende wir vs. die anderen Denken. Wir sind alles Menschen, das sollte reichen.