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Mani Matter: Seine Songs haben nichts an Aktualität verloren

Der Berner Chansonnier Mani Matter im Gespraech (undatierte Aufnahme, vermutlich 1972). Am 24. November 1972 verunglueckte der beliebte Wegbereiter des Mundart-Chansons nach einem Auftritt in Rappersw ...
Mani Matter, undatierte Aufnahme, vermutlich 1972.Bild: KEYSTONE

Vor 50 Jahren ist Mani Matter gestorben – seine Songs haben nichts an Aktualität verloren

Im Jahr 1972 starb Mani Matter bei einem Autounfall. Er wurde nur 36 Jahre alt. Der Berner Troubadour hat bis heute einen nachhaltigen Einfluss auf die Schweizer Musik.
20.11.2022, 18:35
Michael Graber / ch media
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a-Moll, E-Dur, d-Moll. Die Schulklasse in einem jener Vororte, in denen das Betongrau noch etwas grauer ist, wartet darauf, dass ich den Ton angebe. 1, 2, «S’sy zwee Fründe im ne Sportflugzüg …» Alle singen. Das Flugzeug rattert und knattert, stürzt ab, ich versuche die Akkorde auf der Gitarre richtig zu greifen. a-Moll, E-Dur, d-Moll. «Raffinierte Liedauswahl» wird die Mentorin später in der Bewertung notieren. Matter geht immer.

Das war schon kurz nach der Jahrtausendwende in meiner Lehrerausbildung gültig und ist es immer noch. Es war auch egal, dass die Hälfte der 4. Primarschulklasse einen Migrationshintergrund hatte und viele mit der Mundart ähnlich knatterten wie das Flugzeug im «Alpeflug». Alle haben verstanden, was Mani Matter singt. Es ist raffiniert einfach. Das gilt für Texte und Musik. a-Moll, E-Dur, d-Moll sind kein Hexenwerk und selbst mit schweissnassen Händen spielbar. Aber wer Musik macht oder Texte schreibt, der weiss: Kaum etwas ist so schwierig, wie Sachen einfach wirken zu lassen.

Auch im Fussballstadion singen sie Mani Matter

Mani Matter, geboren 1936 als Hans Peter Matter, sagte einst, das Erste, was er tue, nachdem er eines seiner Lieder fertig geschrieben habe, sei «daran zu zweifeln». Von all jenen Zweifeln, dem Hadern und dem Grübeln ist in seinen Texten nichts zu hören. Ein «Liedlimacher» war er, ein «Värsli-Schmied». Ein Schmied braucht, bei aller notwendigen Kraft, auch die notwendige Präzision. In der Genauigkeit der Arbeit trennt sich die Spreu vom Weizen. Und Matter, Jurist von Beruf, schärfte seine Worte stundenlang. Er lässt weg. Verdichtet. Kaum etwas ist zu viel. «Fast alle Melodien sind in C-Dur oder a-Moll notiert, weil das die einfachsten Gitarrengriffe ergibt», schreibt «M.M.» in den Anweisungen im Liederbüchlein «Us emene lääre Gygechaschte». Virtuos waren maximal die Reime, die Wortspiele und die Pointen – immer aber auch in einer klaren und einfachen Sprache. Genau das macht seine Lieder derart zeitlos.

43 Bundesräte und Bundesrätinnen waren oder sind seit 1972 im Amt. Rund 4 Millionen Kinder sind seither in der Schweiz auf die Welt gekommen. Und sollten diese nicht in der West- oder in der Südschweiz wohnhaft sein, so dürften sie alle mit Matter in Berührung gekommen sei. Das «Zündhölzli» als Einschlaflied, «Dr Ferdinand isch gstorbe» in der Pfadi und – eben – «Dr Alpeflug», angestimmt von einem schwitzenden Lehrerpraktikanten.

Und wenn nicht dort, dann vielleicht später im Fussballstadion. Mehrere Fankurven in der Schweiz haben Matter mittlerweile im Repertoire – interessanterweise kamen übrigens die FCZ-Fans vor jenen von YB auf die Idee.

Die Familie wacht mit strengem Auge über das Erbe

Ansonsten ist von Matter auch 50 Jahre nach seinem Tod vor allem noch Mani Matter da. Es gibt – neben Stephan Eichers «Hemmige» und dem wichtigen «Matter Rock» – nur wenige abrufbare Coverversionen. Die Familie Matter wacht streng über das musikalische und textliche Vermächtnis des Troubadours. Für manche durchaus zu streng. Es hat zumindest etwas sehr Konservierendes, wie mit der Musik von Mani Matter umgegangen wird. Vielleicht auch ein bisschen etwas Museales. Läuft ein Matter-Song, so duftet und klingt das immer ein bisschen nach Vinyl-Platte und nach verrauchten Kleintheatern.

Erst seit rund zwei Jahren sind seine Liedli auch auf den Streaming-Diensten zu finden. Vorher lief die Suche nach dem «Zündhölzli» auf Spotify ins Nichts. Romantiker vermuten dahinter eine Verweigerungshaltung gegenüber diesen seelenlosen Musik-Durchlauferhitzern, Pragmatiker dagegen tippen auf monetäre Gründe – eine verkaufte CD schenkt deutlich mehr ein als ein Klick im Internet. Genau wissen tut es (fast) niemand. Und so gilt, was Matter schon gesungen hat: «Mir het dr Dings verzellt/Dr Dings heig ihm gseit».

Er bekehrt Anarchisten und singt für die Umverteilung

Mit seiner berndeutschen Gmögikeit erzählt Mani Matter in seinen Liedern Geschichten. Mal sind es Wortspielereien (etwa in «Dr Sidi Abdel Assar vo El Hama»), küchenphilosophische Betrachtungen («Betrachtige über nes Sändwitsch»), mal können sie aber auch explizit politisch gelesen werden. «Dene wos guet geit giengs besser/Giengs dene besser wos weniger guet geit/Was aber nid geit, ohni dass′s dene/Weniger guet geit wos guet geit» ist mindestens ein kleiner Aufruf zur Umverteilung.

Und wenn der Liedprotagonist in «Dynamit» den Anarchisten zwar mit Worten daran hindert, das Bundeshaus in die Luft zu sprengen, darob aber selbst ins Grübeln mit der Schweiz gerät, drückt dabei wohl mindestens ein bisschen Gesinnung des Singenden durch.

Matter gelingt es daraus aber dauerhafte Musik zu machen. Es hat keine zu expliziten Verweise auf zeitgeschichtliche Ereignisse und keine direkten Anspielungen auf tatsächlich existierende Personen. All das macht Matter auch 50 Jahre nach seinem Tod noch singbar, ohne unter dem Liedtext Fussnoten anfügen zu müssen, welche die damalige Zeit erklären. In seiner Zeitlosigkeit bleibt Matter immer aktuell.

Und fragt man sich bei aktuellen Musikerinnen und Musikern durch, die heute in Mundart singen (siehe Galerie), so wird deutlich, welch prägenden Einfluss Matter auf die musikalische Sozialisierung hatte.

Interessanterweise geschah bei vielen der Anknüpfungspunkt aber nicht über Mani Matter himself, sondern über Interpretationen. Eichers «Hemmige»(1991) und die bereits angetönte «Matter Rock» mit Züri West, Polo Hofer, Patent Ochsner und vielen mehr erschien 1992 und verband eine neue Generation mit dem Chansonnier. 2016 wurde eine neue Compilation («Und so blybt no sys Lied») mit dem Segen der Erben veröffentlicht. Dieses Mal versuchten sich etwa Lo & Leduc, Jeans for Jesus und Steff La Cheffe an Matter-Interpretation – oft grossartig (Anspieltipp Evelinn Trouble mit «Alls wo mir i d Finger chunt»).

Die Lieder sind zeitlos – weil sie frei von Zeitgeist sind

ZUM 80. GEBURTSTAG DES LIEDERMACHERS MANI MATTER (AM 4.AUGUST 2016) STELLEN WIR IHNEN AM DONNERSTAG 28. JULI 2016 FOLGENDES ARCHIVBILD ZUR VERFUEGUNG. - Liedermacher Mani Matter, aufgenommen bei einem ...
Gitarre und Stimme: Mehr brauchte Mani Matter nicht für seine Kunst.Bild: LUKAS LEHMANN

«Matter Rock» und «Und so blybt no sys Lied» sind die Einstiegsdrogen in den Matter-Kosmos für alle, die irgendwie an den Pfadi-Liederbüechli vorbeigekommen sind. Statt der Schrammelgitarre griffiger Bandsound oder funkelnde Beats – Matter in cool. Allerdings sei an dieser Stelle folgende Prognose gewagt: Während der a-Moll-E-Dur-D-Moll-Matter auch in 50 Jahren noch funktioniert, werden all die «zeitgemässen» Interpretationen in den nächsten fünf Jahrzehnten tüchtig Staub ansetzen. Je mehr Zeitgeist in den Liedern steckt, desto schwieriger ist es, dass sie zeitlos werden.

Spannend wäre es, was Mani Matter heute dichten würde. Ob er das «Zündhölzli» der aktuellen Weltlage anpassen würde. Oder ob er, weit wahrscheinlicher, einfach seine Liedli singen und dem Publikum die Interpretation überlassen würde. Hans Peter Matter starb am 24. November 1972 auf dem Weg zu einem Konzert in Rapperswil bei einem Autounfall. (aargauerzeitung.ch)

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Pato Hemmige
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68 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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M. mit Stil
20.11.2022 18:57registriert September 2022
Dr Sidi Abdel Assar vo El Hama: ein wahres Meisterwerk! Die Reime sind genial und die Melodie passt einfach perfekt. Ich habe grossen Respekt vor Mani Matter.
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eselhudi
20.11.2022 20:16registriert Januar 2018
sicherlich einer der grössten - wenn nicht sogar der grösste - schweizer musiker.
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chnobli1896
20.11.2022 18:42registriert April 2017
RIP. Höre seine Lieder heute noch mind. einmal pro Woche.
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