Beantworten wir hier mal die drängendste aller Service-Fragen zuerst: Kann ich mit meinem Kind da rein? Also nicht in «Snow White and the Huntsman», der Film, bei dessen Dreh Kristen Stewart ihren Vampir-Prinzen Robert Pattinson mit dem Regisseur betrog (ab 12 Jahren), und erst recht nicht das frivole Zürcher Koks-Orgien-Drama «Snow White» (ab 16 Jahren), sondern natürlich in das brandneue «Snow White» von Disney.
Ja. Ja, ja, ja! Es ist ab 6 Jahren, es ist ein Rummelplatz der alles betäubenden Herzigkeiten (ich war schon nach der ersten Minute, in der sich süsse animierte Igeli, Häsli und Eichhörnli um ein Märchenbuch balgen, völlig fertig), Gewalt wird keine gezeigt, ein bisschen spannend ist es trotzdem.
Das Schneewittchen (Rachel Zegler) ist der Mensch gewordene innere und äussere Liebreiz und singt schöner als jeder Engel. Die böse Königin (Gal Gadot) ist virtuos böse, aber auch sehr lustig. Die animierten Zwerge sind sowieso lustig, jedes Kind wird sich sofort mit dem schüchternen Jöh-Zwerg Dopey identifizieren. Alles sieht so kitschig aus, wie es gerade noch erträglich ist, die neu geschriebene Musik ist enorm lüpfig, und obendrein verabreicht Schneewittchen den chaotischen Zwergen eine brauchbare Lektion in «wie räume ich mein Zimmer auf und habe dabei trotzdem gute Laune».
Zweitens, und nicht minder wichtig: Ist es für mich als erwachsener Mensch eine Strafe, wenn ich mein Kind / Gottenbub / Göttimeitli / Igeli ins Kino begleiten muss? Nein! Die mit 270 Millionen Dollar nun wirklich sauteure Neuadaption des Disney-Klassikers «sparks joy», wie Aufräum-Domina Marie Kondo sagen würde.
Die Leute hinter «Snow White» sind ja nicht doof. Also nicht grundsätzlich. Obwohl sich einige von ihnen während der Entstehung des Films strohbohnenblöd verhalten haben – Rachel Zegler twitterte «Free Palestine!», ohne nachzudenken, was das bedeutet, Gal Gadot, eine ehemalige israelische Soldatin, setzte sich umso stärker für Israel ein, von der «öffentlichen Meinung», die in gewissen Besetzungsfragen jenseits jeder Zurechnungsfähigkeit lag, ganz zu schweigen.
Aber egal. Jetzt ist «Snow White» da und man muss auch einmal diejenigen erwähnen, die das neben den beiden konfliktfreudigen Stars auch verdienen: Regisseur Marc Webb etwa hat einst die bezaubernde und quirky – wie man damals alles mit Zooey Deschanel nannte – Liebesgeschichte «500 Days of Summer» gedreht. Und die Drehbuchautorin Erin Cressida Wilson hat schon die Drehbücher zu «Secretary» (Perversionen im Büro mit Maggie Gyllenhaal) und zu «Chloe» (erotischer Dreiecksthriller mit Amanda Seyfried, Julianne Moore und Liam Neeson) geschrieben. Die beiden waren also prädestiniert für ein Märchen mit fetischartigen Beziehungs-Konstellationen.
Erinnern wir uns an das Original-Schneewittchen der Gebrüder Grimm: Ein Prinz verliebt sich in eine schöne Mädchenleiche und schleppt sie so lange mit sich herum, bis aus der Leiche wieder ein lebendiges Mädchen wird. Es hauste zuvor mit bis zu 275 Jahren alten, kleinen weissen Bergarbeitern in einer Kommune im Wald, weil ihre böse, immerzu mit ihrem Spiegel sprechende Stiefmutter sie hatte ermorden lassen wollen. Die Stiefmutter muss am Ende in glühenden Eisenschuhen in den Tod tanzen. Sigmund Freud, analyze this!
1937 hat Disney in seinem Ur-«Snow White» all dies so harmlos und romantisch verdichtet erzählt, dass kein Kind davon Alpträume haben musste.
Und jetzt? Webb und Wilson machen das Märchen zu einem überraschend zeitgemässen Widerstands-Epos mit vielen kleinen subversiven Sticheleien, ohne die alte Disney-Substanz dabei zu verlieren. Wir schauen der verwaisten Prinzessin Schneewittchen dabei zu, wie sie in die Farben der Ukraine gekleidet (Quatsch, ein Zufall natürlich, schon das UrDisney-Schneewittchen war so gekleidet, aber es fällt schwer, die Assoziation nicht zu machen) in den Kampf gegen ihre supernarzisstische, profitgeile Stiefmutter zieht.
An Schneewittchens Seite: sieben Zwerge, die irritierend fidel in den Diamantminen der rohstoff-fixierten Königin arbeiten und nicht auf die Idee kämen, ihren Job zu hinterfragen. Aufklärung tut not! Ebenfalls an ihrer Seite: eine Rebellentruppe, die aus ehemaligen Kulturschaffenden besteht, die vom Kulturschaffen nicht mehr leben können, weil die Königin die Kulturförderung gestrichen hat. Ist in ihnen etwa ein subversiver Funken eines aufmurrenden Hollywoods zu erkennen?
Die böse Königin liebt Diamanten, Kaviar und sich selbst. Schneewittchen liebt die anderen. Und Äpfel. Und was Eva im Paradies zum Verhängnis wurde, ist auch beinahe Schneewittchens Untergang. Und immer sind da interessante Diskussionen über Schönheit und was sie bedeuten könnte: Die Königin besteht darauf, dass Schönheit in einem kalten, kapitalistischen Sinne Macht bedeutet (Heidi Klum pflichtet ihr gewiss bei), ihr Spiegel hält ihr entgegen, dass erst innere Schönheit, also Mitgefühl und Zwischenmenschlichkeit, einen Menschen zu einem guten Menschen macht.
Schneewittchen will eine gute Monarchin (aber immer noch eine Monarchin) mit einem glücklichen Volk werden. Sie hat allerdings eine ziemlich einfältige Vorstellung ihres zukünftigen Jobs, sie will erst einmal Apfelkuchen für alle backen. Schliesslich weiss man ja seit den fälschlicherweise Marie-Antoinette zugeschriebenen Worten «Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!», dass so ein Volksmagen mit Kuchen befriedigt werden kann.
Ist das alles etwas hanebüchen? Natürlich. Aber auch interessant? Ja! Fast keine anderen Stoffe können auf so fruchtbare Weise neu interpretiert werden wie Märchen. Weil die immer schon auch als Gleichnisse gelesen werden konnten. Macht es Spass? Oh ja, weit mehr als erwartet.
Und die Liebe? Ach ja, die gibt es natürlich auf die gewohnt keusche Disney-Art. Aber einen «Prinzen» gibt es nicht. Dafür auch am Ende wieder das Igeli.
«Snow White» läuft ab dem 20. März im Kino.
Die Königin (Gal Gadot). <3