«You should see his cock!» – Netflix schenkt Victoria Beckham 3 Stunden Eigenwerbung
Logisch war Posh Spice mein liebstes Spice Girl. Damals, als wir in der WG-Küche laut «Wannabe» sangen. Damals, als ich in meinem langjährigen Job vor watson das Spice-Girls-Konzert im Zürcher Hallenstadion covern durfte: Davor gab es eine Pressekonferenz, sie war leicht surreal, denn alle fünf Gewürzmädchen sassen da und zerrupften während des Plauderns mit der Journaille weisse Tulpen. Es war irgendwie nutzlos. Und irgendwie schön.
Mel C., Mel B., Geri und Emma waren dabei fit, waren herzlich, professionell und sehr witzig, einzig Victoria wirkte leicht somnambul und gelangweilt. So wie sie auch sonst immer wirkte, als wäre Fun nicht ihre Komfortzone. Meine war es damals definitiv auch nicht. Da machte sie eine Massenunterhaltung und schien sich der Masse doch konstant entziehen zu wollen. Irgendwohin, in eine Welt aus leicht verschrobenen Träumen. «Miserable cow» nennt sie selbst diesen Gesichtsausdruck. Miserable cow war absolut mein spirit animal.
Ich mag die Frau auch heute noch, sie macht schöne Mode und Kosmetik, die ich sofort kaufen würde, wenn ich das Geld hätte, und es ist mir vollkommen egal, ob sie mit ihrer masslos verzogenen amerikanischen Schwiegertochter, deren Vater Trumps letzten Wahlkampf mitfinanzierte, verkracht ist oder nicht.
Ich hatte mich auf die dreistündige Netflix-Dokumentation über Victoria Beckham gefreut. Nicht so wie damals auf das Konzert der Spice Girls natürlich, aber ein bisschen. Und ein bisschen was von der Frau, die ihren Fans über die Jahre als Mensch mit vielen An- und Widersprüchen erschienen ist, schimmert da auch durch. Ein bisschen.
Vor allem aber ist die Dokumentation Teil jener Seuche, die man nun wirklich nicht mehr ernst nehmen kann und die eine Beleidigung für das Genre Dokumentation ist. Sie geht so: Streamer schliessen mit Celebritys millionenschwere Verträge ab und die Celebritys liefern dann, was sie wollen. Also strahlende Eigenwerbung ohne kritische Tiefenschärfe oder Erkenntnisgewinn. Schamlos kontrollierte Eigenwerbung. Harry und Meghan kassierten so 100 Millionen Dollar von Netflix, die Beckhams angeblich einen Viertel davon.
David durfte bereits vier Folgen lang den schönsten Toren seiner Karriere nachsinnen, jetzt macht Victoria drei Folgen lang für ihre Mode und ihre Kosmetik Werbung. Filetstück ist ihre Pariser Modeschau vom Herbst 2024, es wird die grösste ihrer bisherigen Laufbahn, alles muss klappen, ogott, in einem Laufsteg-BH befinden sich noch STECKNADELN!, ogott, es REGNET!, dabei soll die Show doch draussen stattfinden, ogott, ein Model hat sich das Knie aufgeschlagen, WIE SIEHT DAS DENN AUS?!, ogott, es REGNET eine ganze Woche lang, muss die Show etwa verschoben werden, nein, muss sie natürlich nicht, schlotternde Models werden Victoria und ihrem Investor zu einem Triumph verhelfen.
Der Investor rügt, dass Victoria zwar hinreissende Mode schöpfe, aber absolut kein Gespür für Business habe, er rettete sie und David vor ein paar Jahren vor dem Ruin, David hatte Dutzende von Millionen in Victorias Imperium investiert und nie auch nur ein Pfund Gewinn zurückerhalten, was Wunder, sagt der Investor, wenn schon allein die Office-Pflanzen 85'000 Dollar im Jahr kosteten.
Doch Genaueres über den Abgrund der Beckham'schen Finanzkrise erfährt man nicht, es ist ja, wie gesagt, keine Dokumentation ÜBER Victoria Beckham, sondern eher ein raunender, von ihr bestimmter Spaziergang durch ihr Leben, der mehr auslässt, als er zeigt. Zwischen dem ABSOLUT (nicht) NERVENZERSETZENDEN Countdown bis zur Show im verregneten Paris sind kleine Mosaiksteinchen eingestreut, ein paar Menschen, die sie bewundernd begleiten, etwas Kindheit, dankbare Erinnerungen an die Spice Girls, etwas Anklage gegen die abominable britische Boulevardpresse.
Ja, sie habe eine Essstörung gehabt, sagt Victoria. Ihr Körper, sagt David, sei für sie in einer ausser Kontrolle geratenen Celebrity-Welt das Letzte gewesen, was nur sie alleine habe kontrollieren können. In einer Welt, in der eine TV-Show sie gezwungen habe, sich nach der Geburt des ersten Kindes vor laufender Kamera auf eine Waage zu stellen und ihr noch nicht ganz zurückgewonnenes Gewicht zu kritisieren.
Damals sei so vieles gesagt und geschrieben worden, sagt er, was heute zum Glück nicht mehr möglich sei. Es klingt wie Echos von Victorias Hilferufen aus einer alten Zeit, man erführe gerne mehr, doch es bleibt bei Stichworten. Dann ist man wieder in Paris, bei den Problemen von Menschen mit Kleidern, dort ist es ihr am wohlsten, da bricht auch mal ein trocken platzierter Witz aus ihr heraus, etwa, als sie über Davids Hühnerstall im Garten spricht und mit dem zweideutigen «You should see his cock, it's impressive!» schliesst.
Hübsch auch die Dynamik des alten Ehepaars, das schon weit mehr als das halbe Leben miteinander teilt, er der gechillte Ex-Tschütteler, sie die konstant überspannte Kreativ-Unternehmerin, die immer jemandem beweisen will, dass sie mehr ist als ein Popstar und mehr als eine Spielerfrau, und am meisten will sie dies ausgerechnet ihrem Mann beweisen, sagt sie mit Tränen in den Augen.
Vielleicht ist dies das anstrengende Geheimnis einer gelingenden Beziehung? Dass man den anderen immerzu stolz machen will? David ist ein bisschen entsetzt: «Damit das klar ist: Du könntest auch einen Käsetoast machen und wir wären stolz auf dich!» «Seien wir ehrlich, ich könnte nicht besonders gut Käsetoast zubereiten», sagt sie. Und er: «Nein, das könntest du wirklich nicht. Aber das macht nichts.»
Und dann ist da noch die Sache mit den Partys. Zu denen erscheinen die Beckhams nämlich unweigerlich zu früh. Vor den Gastgebern, vor den Kellnern, einfach als Erste. Obwohl sie sich nur widerstrebend auf den Weg machen. Fun scheint nicht wirklich ihre Komfortzone zu sein. Aber das macht nichts.
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