«Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen,
du Dämmernde, aus der der Morgen stieg.
Wir holen aus den alten Farbenschalen
die gleichen Striche und die gleichen Strahlen,
mit denen dich der Heilige verschwieg.»
Wer hat's gesagt – Rainer Maria Rilke oder Victoria Caroline Beckham?
Puh. Schwierig.
Es ist quasi dasselbe. Ob jetzt Rilke von der Ikonenmalerei spricht oder Victoria von ihrem Augen-Make-up. Es ist reinste Poesie.
Hört euch das an:
«Spring is coming in London and I’m stepping outside my comfort zone with a pop of playful colour with my new EyeWear shade – Cornflower. This fresh sky-blue colour feels very editorial and has a bit of an edge.»
(Der Frühling steht in London vor der Tür, und mit meinem neuen EyeWear-Schatten Cornflower verlasse ich meine Komfortzone mit einem verspielten Farbakzent. Diese frische, himmelblaue Farbe wirkt sehr editorial und hat einen Hauch von Schärfe.)
Ein Gedicht ist das!
Und wie bei jedem Gedicht gibt es je nach lyrischem Verschwurblungsgrad eine oder mehrere Stellen, die man nicht einfach so auf Anhieb versteht. Manchmal, so meint man zumindest in Anbetracht der deutschen Sprache, werden jene Fragezeichen gar für ein Qualitätssiegel gehalten: Je unverständlicher die Verse, umso grösser das Geheimnis, das Genie, das Genital.
Nun dichtet unsere Victoria natürlich nicht auf Deutsch, sondern in ihrer Muttersprache, einem prächtigen Essex-Hertfordshire-Englisch nämlich, was sie aber nicht davon abhält, ebenso mysteriös und unergründlich daherzureden.
Oder wisst ihr, was sie mit «editorialem» Lidschatten meint? Was sie uns sagen will, wenn sie von ihrer grenzüberschreitenden Erfahrung mit dem Kornblumenblau über und unter ihrem linken Auge spricht?
Ist es als selbstbewusstes Statement zu verstehen, als – in die Schweizer Medienlandschaft übertragen – eine Art Köppelblau, das sie dazu ermächtigt, meinungsstark in die Welt hinauszublicken?
Weder das Oxford Dictionary noch das Urban Dictionary kennt den Ausdruck «editorial» ausserhalb eines journalistischen oder verlegerischen Umfeldes, wo es als Adjektiv für die Aufgabe steht, schriftliches Material für die Veröffentlichung oder Präsentation vorzubereiten.
Aber sie kann ja kaum gemeint haben, dass sie jetzt einfach ihr Auge mit blauer Farbe editiert hat.
Ausgerechnet das amerikanische Pendant des Oxford Dictionary, das Merriam-Webster Dictionary, weiss aber schliesslich, was Vickys «editorial» für ein Mysterium birgt:
Es stehe für etwas Extravagantes, heisst es da, etwas High-end-iges, etwas, das inspirieren soll, statt plump eine Funktion zu erfüllen oder superpraktisch zu sein.
«Visually striking» eben.
Victoria, wie posh bist du denn!
Sie traut sich nicht nur, Farbgrenzen zu überschreiten («I'm not normally one for a bright eye, but I love this Cornflower shade of eyewear»), sie reisst gar sprachliche Bedeutungsbarrieren nieder. Und dabei liebt und liked sie, als gäb's kein Morgen!
«I love it for springtime.
And I like it.
I think it's good to try new things,
It's quite editorial,
I like how it complements a brown eye,
I love it for spring time.»
(Ich liebe es für den Frühling.
Und ich mag es.
Ich denke, es ist gut, neue Dinge auszuprobieren.
Es ist ziemlich editorial.
Ich mag, wie es braune Augen ergänzt.
Ich liebe es für den Frühling.)
Victoria Caroline Beckham ist die Queen der Repitio.
Und dazwischen pusht sie auf ihre ausnehmend kultivierte Art ihr Award Winning Cell Rejuvenating Power Serum (30 ml für 225 Fr.) in ihre Haut und man will ihrer Stimme auf ewig lauschen, wie sie sanft dahinplätschert und nirgendwo aneckt, alles rundet sie ab und macht es glatt wie ein ewig fliessender Jungbrunnen, eine Quelle nicht versiegenden Friedens.
Schliesslich aber gibt sie das Geheimnisvolle auf. Die Dämmernde wird zur Sterblichen. Aber sie tut es für uns. Zeigt, dass wir alle erlösende Produkte brauchen, die uns gütig unsere Fehler verzeihen und uns vom Dreck des Lebens reinigen.
Gott hat niemanden perfekt geformt. Und schon gar nicht Victorias Augenbrauen, die sie in ihrem lückenhaften Naturzustand nicht einmal David zumutet.
Dann zoomt sie ganz nah an die Fehlerquelle und sagt:
Dabei guckt sie unerschrocken in die Kamera.
Sie sieht, wie ich starre, will, dass ich starre, dass ich erstarre – und ich tu's.
Es ist wie Hypnose, ich will versinken in den Lücken ihrer Brauen, will die gleichen Striche, die gleichen Strahlen malen.
Will das BabyBlade haben.
Will es sein.
Schon zu Spice Girls-Zeiten, wo zu meiner Zeit die Hormone sprudelten.
Jetzt aufs Alter wird sie mir auch noch gruselig😱
Mindestens 11x sagt sie ICH. Das ganze Video ist nur ich, ich... ich, ich, ich...
Aber ok, Poesie und auch Wahnsinn lagen schon immer im (kornblumenblauen) Auge des Betrachters.