Der Kinosommer 2023 leuchtete pink, diese Weihnachten kommt unübersehbares Grün hinzu. «Wicked» tritt in die Fussstapfen von «Barbie»: Ein bonbonbunter, spassiger Blockbuster mit dezidierter Botschaft, getragen von weiblichen Stars. Selbst das Phänomen «Barbenheimer» wurde – wohl vom findigen Marketing – wieder beschworen. Diesmal vergeblich. Der Doppelerfolg von «Wicked» und «Gladiator 2» («Glicked») blieb aus, der Sandalenfilm unterlag der Musical-Adaption an den US-Kinokassen deutlich.
Bereits im Vorfeld summte monatelang der omnipräsente Werbe-Buzz für «Wicked». Online durch Memes, im Kaufhaus mit stapelweise Merchandise. Darunter waren Barbie-Puppen der Hauptfiguren Glinda (Ariana Grande) und Elphaba (Cynthia Erivo). Wegen denen hat Spielwarenhersteller Mattel die Millionenklage einer besorgten Mutter am Hals: Auf der Verpackung war versehentlich ein Link zur Pornoseite Wicked abgedruckt. Dieser kuriose Fauxpas sollte kein Hindernis sein für Chancen auf etliche Oscar-Nominierungen.
Auch im Kern ähneln sich «Barbie» und «Wicked», wenn sie den Versuch einer Neudeutung wagen und fragen, wann sich ein Mythos zur Marke verfestigt – oder womöglich umgekehrt. Zweimal geht es um Imagekorrektur: Bei dem einen Film ist es eine Puppe, die mehr sein will als ein künstliches Objekt. Im anderen um eine grüngesichtige Hexe, die das Gute will und für das Böse gehalten wird.
«Wicked» erzählt die Vorgeschichte der Figuren aus «Der Zauberer von Oz», einem zentralen Text der amerikanischen Literatur. Woher kamen die drei Gefährten (der mutlose Löwe, der herzlose Blechmann, die hirnlose Vogelscheuche), die dem Mädchen Dorothy halfen, den Weg vom magischen Land Oz zurück nach Kansas zu finden? Warum ist die eine Hexe Glinda so eindeutig gut, während die andere, Elphaba, die Böse ist? Stimmt die Story, die im «Zauberer von Oz» erzählt wird, womöglich gar nicht?
Das im Jahr 1900 veröffentlichte Kinderbuch von L. Frank Baum verhandelt unter seiner fantasievollen Märchenebene persönliche Freiheit und Befreiung. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Und die Fähigkeit, seine Träume in die eigene Hand zu nehmen, wenn sich politische Führer als Blender entpuppen. Unsterblich ins popkulturelle Gedächtnis eingebrannt hat sich die Verfilmung des Buchs von 1939 mit Judy Garland als Dorothy.
Seither schwappten regelmässig Adaptionen des Stoffs durchs Kino, etwa die afroamerikanische Version «The Wiz» mit Michael Jackson und Diana Ross. Auch die Muppets konnten sich schon im Lande Oz austoben. Die mit Abstand populärste Bearbeitung des Stoffs ist jedoch «Wicked», ebenfalls basierend auf einem Buch. Das Musical ist seit 2003 einer der erfolgreichsten Dauerbrenner am Broadway. Wird aus der Verfilmung also automatisch ein Selbstläufer?
Der Film beginnt mit einem tollen, dynamischen Landschaftsschwenk aus dem Schloss der bösen Hexe Elpheba. Dieser wurde von Dorothy ein Eimer Wasser über den schwarzen Spitzhut gekübelt, worauf sie sich aufgelöst hat. Während die Bewohner von Munchkinland fröhlich das Ende der Hexe besingen, muss sich Glinda aus dem Volk die Frage gefallen lassen, ob sie mit ihrer Gegenspielerin einst nicht befreundet gewesen sei? Ja, war sie. Dann erzählt sie die Geschichte, die alles auf den Kopf stellt.
Elphaba wurde mit grüner Haut geboren, was sie zur ständig verspotteten Aussenseiterin macht. An der Universität Shiz trifft sie auf die snobistische Galinda, die sich später Glinda nennen wird. Die ist weder entzückt von Elphabas explosiven Zauberfähigkeiten, noch davon, mit ihr das Zimmer teilen zu müssen. Aus der Rivalität zwischen pink-blond-oberflächlich und grün-düster-wissbegierig wird so etwas wie Freundschaft. Oder so ähnlich, schliesslich geht es Glinda vor allem darum, wie man in der Öffentlichkeit möglichst glamourös dasteht (Song: «Popular»).
Die beiden reisen im Steampunk-Zug in die Emerald City, zum Zauberer von Oz (Jeff Goldblum). Von dem wir wissen, dass er nur ein stinknormaler Typ mit eindrücklichem Karnevalszauber ist. Da er keine Wundertaten wirken kann, versucht er das Volk zu vereinen, indem er die sprechenden Tiere aus dem gesellschaftlichen Leben entfernen lässt. Damit das Bild vom Sündenbock wirklich allen klar wird, wird es verkörpert von dem Ziegenbock Dr. Dillamond (Peter Dinklage), der von seinem Lehrstuhl an der Uni vertrieben wird.
Klar, Toleranz und Freundschaft sind wichtige Werte. Eine Botschaft, die von den beiden Hauptdarstellerinnen auf ihrer Promo-Tour permanent händchenhaltend und nervtötend tränenreich verkündet wird: Das sei alles so emotional, das Anderssein so «heilend» und «bewegend». Wirklich? Schliesslich stellt das Musical gar nicht unraffiniert den Konstruktionscharakter von Erzählungen in den Vordergrund: Es geht um Deutungshoheiten und unangenehme politische Wahrheiten. Dass wir gerne nur das glauben, was wir glauben wollen. Dass der Schein das Sein bestimmt und das Gute gar nicht mal so gut ist.
Visuell ist der von Regisseur Jon M. Chu souverän inszenierte Film ein Feuerwerk der Computer-Animation. Stellenweise prächtig – und zugleich ein generisches Amalgam aus jedem Fantasy-Film der letzten Jahre. Der live aufgenommene Gesang ist kraftvoll, auch wenn einige Lieder zu ausgedehnt werden. Und das ist das Grundproblem: «Wicked» ist leider nur Teil 1 der Geschichte. Was das Bühnenstück in knapp drei Stunden erzählt, dafür braucht es zwei Filme mit insgesamt über fünf Stunden Laufzeit.
Das führt zu erzählerischen Leerläufen, bei denen im Vergleich zum Musical trotzdem nichts vertieft wird. Im Gegenteil: Über manche Lücke bei der Geschichte kann auf der Bühne schnell hinweggesungen werden, im Film nicht. Zudem werden alle spektakulären Enthüllungen erst in der Fortsetzung folgen. Im Theater würde man darauf in der Pause 20 Minuten warten. Im Kino nun ein knappes Jahr. Echte Fans werden das aushalten. Alle anderen dürften mit dem Musical ebenfalls glücklich werden.
«Wicked» läuft ab dem 12. Dezember in den Schweizer Kinos.