Der Kopf des riesigen Robotermädchens schnellt herum, ihr Singsang endet, alle Teilnehmenden auf dem Feld bleiben wie angewurzelt stehen. Schreckensstarre, vereinzelt der Hauch eines Zitterns. Das elektronische Auge scannt die Menge, entdeckt jede Bewegung. Dann fallen Schüsse und Körper. Schliesslich surrt der Kopf wieder zurück, der Lauf geht weiter. Bis das Lied erneut abbricht.
Das Kinderspiel «Rotes Licht, grünes Licht» ist eine ikonisch gewordene Szene aus «Squid Game». Die brutale Netflix-Serie aus Südkorea elektrisierte im Herbst 2021 die Welt. Kinder ahmten einzelne Spiele aus der Fiktion auf dem Schulhof nach, manche verletzten sich dabei. Die Overalls der gesichtslosen Wachleute mit den schwarzen Masken verkauften sich als Kostüm für Halloween und Fasnacht. «Squid Game» avancierte zum überraschenden Hit für den Streamingdienst.
Der Inhalt der neun Folgen gestaltete sich im Kern übersichtlich: In einem illegalen Wettbewerb an einem geheimen Ort konkurrenzieren Hunderte von Kandidatinnen und Kandidaten in diversen Glücks- und Geschicklichkeitsspielen um ein Millionenpreisgeld – und um ihr Leben. Wer am Ende gewinnt, überlebt als Einziger. Alle Verlierer werden sofort getötet. Ein Grüppchen dekadenter Superreicher bildet das Publikum dieser darwinistischen Gralsfeier.
«Squid Game» war sensationalistisch. Aber zugleich eine Parabel auf den Sensationalismus und auf das unselige Verhältnis von Schulden und Schuld. Nicht nur, doch besonders innerhalb der südkoreanischen Gesellschaft. Die Teilnehmer rekrutierten sich aus ökonomischer Verzweiflung, die sie dazu brachte, die Grenzen ihrer Moralvorstellungen auszuloten – und zu übertreten. Ähnlich wie beim grossen Oscar-Gewinner «Parasite» im Jahr zuvor, ging es in «Squid Game» um Radikalisierungsphänomene angesichts krasser wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, um den Leidensdruck, der aus Leistungsdruck entsteht.
Das Ende der ersten Staffel hielt einen fiesen Twist bereit, mit dem die Geschichte wunderbar hätte beendet sein können. Aber natürlich blieb eine Hintertür offen: So wie im Horrorfilm das Monster kaum jemals tot ist und beständig seiner Auferstehung harrt, konnte ein solch globaler Erfolg nicht in Frieden ruhen. Eine zweite Staffel war ursprünglich nicht geplant, doch umso schneller ausgemacht. Nun lässt sie auf sich warten, vor 2025 folgt die Fortsetzung wohl nicht.
In der Zwischenzeit bemüht sich Netflix nach Kräften darum, dass der Hype nicht abstirbt, präsentiert mit «Squid Game: The Challenge» jedoch einen Rohrkrepierer als Lückenfüller. In der nach Grossbritannien verpflanzten Realityshow ist das bekannte Setting der Serie nachgebaut: Der Schlafsaal mit den metallischen Bettentürmen. Die bunten Treppenhäuser, die M. C. Escher hätte entwerfen können. Die geometrischen Symbole Dreieck, Quadrat, Kreis, die an den Aufdruck des Playstation-Controllers erinnern.
Wie in der Serie gibt es 456 Spielerinnen und Spieler, die um einen Betrag von 4,56 Millionen Dollar wetteifern – den angeblich höchsten in der Geschichte von Gameshows. Der wichtigste Unterschied, schliesslich befinden wir uns nicht mehr in der Fiktion: Niemand wird getötet. Stattdessen explodiert unter der Kleidung der Verlierer eine Packung mit dunkler Farbe, woraufhin sie sich theatralisch zu Boden sinken lassen. Das Risiko ist also trotz öffentlichkeitswirksamer Klagen von Teilnehmern wegen Unterkühlungen gering, das Pathos dafür umso höher.
Statt Blut sprudeln Krokodilstränen, Hände werden vors Gesicht geschlagen und stöhnende Entsetzensrufe ausgestossen, wenn jemand eliminiert wird, als ginge es wirklich ums Leben. «Sie sagen, es seien nur Spiele. Sind es nicht», sagt ein Teilnehmer ehrfürchtig. Keine künstliche Emotion ist in «The Challenge» zu hohl, um sie nicht nach allen Regeln der Realityshow-Kunst voll auszuspielen. Eine ironische Distanz zum Geschehen fehlt völlig.
Dabei ist es für die Netflix-Zuschauerschaft total unerheblich, wer gewinnt oder ausscheidet, da man in diesem unübersichtlichen Teilnehmerfeld kaum jemanden näher kennenlernen kann, ehe der nächste Farbbeutel platzt. Da hilft es wenig, wenn ausgewählte Kandidaten sehr kurz vorgestellt werden, ihre Motivationen zur Teilnahme nennen dürfen («Haus und Auto abbezahlen») oder Lebensweisheiten zum Besten geben: «Bevor der finanzielle Reichtum kommt, muss sich erst einmal moralischer Reichtum aufbauen.» Danke, Nachwuchsjesus.
Einige der Spiele wie das Wettrennen «Rotes Licht, grünes Licht» sind aus der Serie bekannt. Bei anderen, konventionelleren schlafen die Füsse ein. Eine Studio-Version von «Schiffe versenken», in der die Kandidaten auf dem Spielfeld in unspektakulären Minibooten stehen, könnte auch aus der Hölle des deutschen Spätabendfernsehens stammen.
Doch selbst dort wäre nach vier quälenden Runden der letzte Rest von Spass oder Spannung abgesoffen. So ist die Show nicht nur zäh, schlimmer: Netflix hat die Prämisse von «Squid Game» nicht verstanden oder aber verraten. Die Kapitalismuskritik der Serie wird jetzt selbst als Teil der Realityshow ausgeschlachtet.
Zwischendurch fragt man sich kurz, ob man jetzt womöglich selbst etwas nicht verstanden hat: Könnte «Squid Game: The Challenge» das clevere Real-Pendant zur fiktiven Show sein? Ein Brechtsches episches Theater, das die Gewalt, von der wir in der Fiktion ergriffen und mitgenommen wurden, als fiktiv entlarvt?
Anders gefragt: Wenn es öde ist, liegt das daran, dass statt Blut Farbe fliesst und wir doch ganz gerne Tote sehen wollen? Dann würde uns die Show einen Spiegel vorhalten. Aber in ihrer unerbittlich sich selbst ernst nehmenden Machart, die den routinierten Registern von Reality-TV folgt, tut sie genau dies nicht.
Es ist keine Premiere, dass der erste grosse Streamingdienst des 21. Jahrhunderts auf ein so bewährtes Format setzt. Zuvor liefen unter anderem die Game-Show «The Floor Is Lava» und die Wie-erlernen-wir-echte-Bindungen-jenseits-von-Sex-Lehrschule «Too Hot to Handle». Beide ähnlich bieder und unoriginell wie der «Squid Game»-Ableger.
Das Konzept Reality-TV entwuchs Ende der 90er-Jahre den damals revolutionären Playern, den Privatsendern, und war von Anfang an stark mit dem spielerischen Wettstreit gegeneinander verbunden. Den Menschen beim blossen Herumexistieren zuzuschauen, reichte nicht aus, das wusste bereits «Big Brother».
Die antike Gladiatorenarena scheint in den Köpfen weiter lebendig und das Bedürfnis nach Unterhaltung im Gewand der Wirklichkeit im Jahr 2023 ungestillter zu sein denn je. Auf Amazon Prime erobern erneut Horden japanischer Kontrahenten in videospielähnlichen Settings «Takeshi’s Castle». Die Parcours der «Ninja Warriors» werden seit Jahren ebenso unermüdlich bestürmt wie die Herzen von Bachelorette und Bachelor.
Das Label «Reality» suggeriert nicht nur Wahrheitsanspruch, sondern schafft auch bildschirmüberbrückende Nähe zwischen Teilnehmenden und Zusehenden. Gerade in vermeintlichen Extremsituationen und Wettbewerben (und sei es etwas Harmloses, aber individuell Bedeutsames wie ein Date) fiebern wir mit ihnen mit. Wir identifizieren uns mit den einen, während wir uns von anderen abwenden, drücken unsere Unterstützung aus, wenn wir für sie voten, und unser Engagement, indem wir auf Social Media debattieren.
Tatsächlich sind Realityshows ein anschauliches Beispiel für die Beobachtung des Soziologen Erving Goffman, dass «wir alle Theater spielen». So entwickeln wir für verschiedene Situationen unterschiedliche Rollen, verhalten uns beim Partner anders als gegenüber der Chefin, in der Kneipe anders, als wenn eine Kamera läuft. Letztlich sind wir nie authentisch, nie ganz wir «selbst», auch wenn wir darüber selbst keine Kontrolle haben. Und immer noch gerne die Mär vom «authentischen Ich» annehmen.
Das Spiel mit Selbst- und Fremdbild ist ab Mitte Januar wieder gut zu beobachten. In der neuen Staffel «Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!» werden sich wieder deutsche Semi-Promis im australischen Dschungel ums Lagerfeuer versammeln, Känguruhoden kauen und von Schönheitsoperationen, Kindheitstraumata oder ihrem oft traurigen Liebesleben erzählen. Ja, das Format zeigt nach 20 Jahren erhebliche Abnutzungserscheinungen. Doch mit seinen permanenten Verweisen auf die eigene Albernheit und Künstlichkeit ist es allemal noch lehrreicher und selbstreflektiver als «Squid Game: The Challenge».
«Squid Game: The Challenge»: 9 Folgen auf Netflix, das Finale folgt am 6. Dezember.