Graue Herren nuckeln an Asthma-Sprays – nicht das einzige Problem von «Momo»
Manche Bücher kann man nicht zu Ende lesen, ohne dabei traurig zu lächeln. Michael Endes «Momo» (1973) gehört dazu. Die Geschichte des Mädchens Momo, das den Menschen Zeit schenkt und sie vor den fiesen Zeit-Dieben rettet, trifft auch heute noch direkt in unsere nervösen Herzen.
Denn Ende hat die Zeit-Diebe so entworfen, dass wir sie als Kapitalismus-Metapher begreifen müssen: Die Diebe flüstern den Menschen Effizienzgedanken ein, zwingen sie zur kranken Optimierung ihrer Arbeit, was auf Kosten der schönen Seiten des Lebens geht. Erst der Einsatz der mutigen Momo reisst die Menschen aus ihrer Hektik und erinnert sie daran, die Zeit zu geniessen.
Es ist daher begreiflich, dass der deutsche Regisseur Christian Ditter «Momo» neu verfilmt hat – mit dem Anspruch, den Stoff für unsere Gegenwart zu aktualisieren. Eine erste «Momo»-Verfilmung von 1986, bei der Michael Ende noch mitwirkte, blieb der Vorlage recht treu. Doch seither wurden Dinge wie das Internet oder Smartphone erfunden, vor deren Hintergrund Endes Geschichte in anderer Schärfe schneidet. Aber wie schneidet Ditters «Momo» ab?
Die grauen Herren sind jetzt divers
Man muss es klar sagen: Dieser Neuverfilmung, die am Zurich Film Festival ihre Weltpremiere feierte, fehlt der Zauber, der Endes Buch (und in Teilen auch die Verfilmung von 1986) überzieht. Das liegt nicht an der 13-jährigen Hauptdarstellerin Alexa Goodall, die Momo mit Charme und Nuance spielt, und es liegt auch nicht an Martin Freeman («Sherlock», «Hobbit»), der als Zeit-Meister Hora sympathisch rumonkelt.
Es liegt am Drehbuch. Zwar holt es den «Momo»-Stoff in die Gegenwart, aber bleibt dabei flach wie ein Ziffernblatt. Die Zeit-Diebe, die Ende als glatzköpfige «graue Herren» beschreibt, die im Versteckten arbeiten und die Zeit der Menschen als Zigarren rauchen, sind in Ditters Film Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines offen agierenden Unternehmens namens «Grey».
Statt an Zigarren nuckeln die diversen «Grey»-Mitarbeitenden an «Zeit-Inhalatoren», die aussehen wie Asthma-Sprays. Statt der uniformen Glatzen tragen sie alle möglichen hippen und weniger hippen Frisuren. Statt den Menschen den Gedanken des Zeitsparens einzupflanzen, und danach zu verschwinden, verteilen sie Armbänder («Greycelets»), die dem Träger anzeigen sollen, ob er grad Zeit «einspart» oder «verschwendet».
Aktualisieren heisst nicht Ausstaffieren
Damit denkt der Film Endes Vorlage nicht weiter, sondern staffiert sie lediglich mit Gegenwartsmarkern aus. Zu den wirklich grossen Zeitfressern unserer Tage (Handys, Social Media) fällt ihm nichts ein.
Das wäre auch nicht unbedingt nötig gewesen (wenngleich interessant). Schliesslich funktioniert der Roman ja eben deshalb bis heute, weil Ende die Zeit-Diebe als Metapher angelegt hat. Durch den Versuch jedoch, die «grauen Herren» zeitgeistgerecht zu machen, entzieht der Film ihnen den Metaphern-Gehalt, ohne dabei viel mehr als einen diverseren Cast zu gewinnen. Sodass man den Kinosaal weder lächelnd noch nachdenklich, sondern gleichgültig verlässt.
«Momo» läuft ab dem 2. Oktober in der Schweiz im Kino.