«Augen aufs Gesicht», ermahnt Heidi Klum sich selbst, nur nicht weiter runter schauen, zum gemeisselten, geölten Sixpack, das so «heissssss» ist, und noch weiter runter. Vor ihr steht Armin oder Julian oder Aldin oder Yusupha oder wie Heidis heiss frittierte Sahneschnittchen eben so heissen.
Manchmal fragen sich die Jungs, ob Heidi eben so richtig mit ihnen geflirtet hat. Und finden es richtig gut. Denn Heidi, der steinreiche Star mit dem immer noch perfekten Model-Body und dem Mann, der nur unwesentlich älter ist als die Kandidaten selbst, stellt in so einer Jungs-Trophäen-Welt schon eine reelle Währung dar.
Zwischen Heidi und den Jungs herrscht sowas wie schlecht kaschiertes und sehr herzliches Balzverhalten. Beide Seiten mögen sich auf mehreren Ebenen. Oder performen dies zumindest sehr lustvoll. Alles ist so tiefenentspannt sexistisch. Umgangsformen aus einer uralten Zeit. Nur ist die Frau der Obermacker. Heidi gönnt sich einen Harem.
Der Obermacker ist sie allerdings auch im Umgang mit ihren Kandidatinnen, bloss flirtet sie mit diesen nicht. Immer wieder fällt beim sogenannten Setcard-Shooting der Vorschlag, doch so viel wie möglich auszuziehen. Vor allem den BH. So ein BH stört Heidi, die exzessiv zu ihren Brüsten steht und sie Hans und Franz getauft hat, sehr.
Ein bisschen muss man Heidi Klum ja um ihren unbekümmert freizügigen Umgang mit sich selbst beneiden. Diese Frau hat nie Probleme mit sich gehabt. Im Gegensatz zu ihren Kandidatinnen. Die bildschöne Xenia etwa zerfällt fast vor Selbstzweifeln, es tut ein bisschen weh. Und eine andere, die ausserhalb des Laufstegs so hübsch ist wie einst die blutjunge Sinead O'Connor, erstarrt in High Heels zu einem schlecht designten KI-Fohlen. Sie kann und kann einfach nicht «walken».
Eine Gastjurorin sagt tadelnd, dass Model der einzige Job der Welt sei, in dem Frauen mehr verdienen als Männer. Dafür werden dann aber auch gewisse physische Kernkompetenzen vorausgesetzt. Etwa, dass man in einem überlangen Kleid und hohen Schuhen so graziös eine Treppe herabschweben kann, als besässe man Flügelchen anstelle der Füsse. Muss man als Mann nicht können. Es sei denn in der Drag-Queen-Folge, die es seit ein paar Jahren in jeder GNTM-Staffel gibt. Das wird gewiss brutal. Und brutal lustig. Und nur wenige Jungs werden den anderen zeigen können, was es bedeutet, wenn man seine Freizeit nicht nur mit Pumpen, sondern mit schillernden Performances verbringt. Und alle werden lernen, dass Walken Leiden heisst.
Bis jetzt hat nur ein einziger gelitten. Nämlich Julian. Er ist der Zwillingsbruder von Luka, und als ihm beim Umstyling Blondierungscreme aufgetragen wurde, hat er sehr albern rumgejammert, es sei, als würde sein Kopf «abbrennen», sagte er, noch nie habe er einen derart schlimmen Schmerz aushalten müssen. Folter! Amnesty, zu Hilfe! Da war es dann mal an den Frauen, die eigenen, schon zigfach abgebrannten Köpfe zu schütteln und Dramaking Julian auszulachen.
Überhaupt ist das «Gefühlschaos» bei den Zwillingen der Stoff, aus dem eine grosse deutsche TV-Soap gemacht sein könnte, und Zwillings-Fachfrau Heidi Klum hat das auch sofort erkannt. Da sind also zwei Buben, die ihr bisheriges Leben lang die gleichen Kleider, Frisuren und Geistesblitze hatten, und plötzlich kommt Heidi und stellt ihnen Sendung für Sendung wie eine leicht sadistische Hebamme in Aussicht, die unsichtbare Nabelschnur zwischen den beiden zu kappen. Ihre äusserlichen Eingriffe sind minimal. Die Eingriffe ins Seelenleben der beiden grösser. Wie Heidi sie gegeneinander ausspielt. Wie sie Jammerlappen Julian dem tapferen Luka vorzieht. Wie die Möglichkeit, dass einer der beiden heim muss, immer grösser wird. Dabei wollen die beiden doch gar keine Individualität! Und keinen anderen Spiegel als den des brüderlichen Gegenübers!
Doch auch andere Jungs sind gut in der Disziplin des emotionalen Narrativs. Lucas etwa kämpfte zwei Jahre lang unter Einsatz seines ganzen Wohlbefindens aktiv in der Bundeswehr gegen Homophobie – damit das nicht andere tun müssen, die mental nicht so stark seien wie er.
Die Geschichten der Frauen hingegen glaubt man alle schon zu kennen. Grace, die aus Syrien flüchten musste, ist nur eine Wiederholung von Soulin, die vor drei Jahren schon vom gleichen traurigen Schicksal erzählt hat. Wiederholungen stumpfen ab. Weshalb Heidi Klum jetzt auch zum ersten Mal Männer in die Sendung geholt hat.
Und während die Frauen, von denen viele mit GNTM aufgewachsen sind, in den letzten Jahren immer mehr zu Heidis gehorsamen, sich ständig hinterfragenden Herdentieren geworden sind, gehört den Männern ganz klar die Welt. Für sie ist GNTM ein amüsantes Experiment, für viele eine überraschend grosse Bestätigungsanstalt, in der sie aufblühen, und im Gegensatz zur Bundeswehr eh ein unendlicher Spass. Und alle Gastjurorinnen und -juroren sind von ihnen viiiiel mehr angetan als von den so oft staksenden, stolpernden Frauen. Ihre Nachfolger – falls auch die 20. Staffel wieder gemischt sein soll – werden möglicherweise auch schon wieder abgeschliffener sein, die aktuelle Staffel ist sowas wie eine Frischzellenkur für das doch ordentlich in die Jahre gekommene Format.
Tragisch ist bloss, dass es bei allen karnevalesken Inszenierungen, die die Modewelt so bietet, alte Geschlechterbilder aufs Gröbste zementiert. Wie sich die Kandidatinnen und Kandidaten – mit Ausnahme weniger queerer Jungs – darstellen müssen und wollen, erinnert an glamouröse, aber himmelschreiend rückständige Zeiten. Abs gegen Absätze. Selbstbewusstsein gegen Selbstzerfleischung. Aber das war GNTM schon immer. Nur tritt es jetzt noch viel klarer zu Tage.