Vor zehn Jahren kam ich ohne den schönen, handlichen und vor allem teuren Knirps nach Hause, den ich am Morgen mit in die Schule genommen hatte. Schon wieder. Da lupfte es meinen Eltern den Deckel.
Ab sofort galt ein Regenschirmverbot:
An dieses Verbot hielt ich mich viele Jahre. Selbst dann noch, als ich längst ausgezogen war. Bis der Zufall es wollte, dass ich in den Besitz eines ganz besonderen Regenschirms kam.
Das ist seine Geschichte.
Es ist Herbst 2019. Mein künftiger Regenschirm steht im Schaufenster eines edlen Geschäfts und schaut dem Treiben auf der Bahnhofstrasse zu. Es regnet. Die Lichter der Trams verschwimmen hinter dem Fenster.
Er träumt von einem aufregenden Leben, draussen, an der frischen Luft. Er will durch Städte, Dörfer, Wälder, über Berge getragen werden. Die Welt sehen. Und fragt sich, ob er heute endlich seinen neuen Besitzer kennenlernen wird.
In diesem Moment huscht ein Mann im Anzug an seinem Schaufenster vorbei. Seinen Mantel hat er über den Kopf gezogen, damit der Regen seine Frisur nicht zerstört. Im Augenwinkel nimmt er meinen künftigen Regenschirm wahr. Er bleibt stehen, geht ein paar Schritte zurück, betrachtet den Schirm eingehend und betritt dann das Geschäft.
Er schaut nicht auf den Preis. Nimmt für die schnelle Transaktion nicht einmal seine weissen Kopfhörer aus den Ohren. Das Muster des Schirms gefällt ihm. Es sieht edel aus. Nach Marke. Und der Schirm hat einen Knopf, mit dem er sich automatisch aufspannen und schliessen lässt. Das genügt. Also kauft der Anzugträger meinen künftigen Schirm.
Auf meinen künftigen Regenschirm warten keine Wälder, keine Dörfer, keine Berge. Nicht einmal Hügel. Nur ein graues, nasses Leben in Zürich. An der frischen Luft ist er nur fünf Minuten am Tag, wenn der Anzugträger von seiner Wohnung zur Tramhaltestelle läuft.
Mein künftiger Regenschirm hat den falschen Besitzer erwischt.
Doch in wenigen Wochen sollte sich das ändern. Der Anzugträger muss ausnahmsweise geschäftlich Zug fahren. Genauso wie ich. In Zürich regnet es in Strömen, als wir einsteigen und uns ins gleiche Abteil setzen. Den nassen Schirm wirft der Anzugträger sorglos auf den Boden, neben seine polierten Lederschuhe.
Der Zug fährt los. Der Zürichsee zieht an uns vorbei. Langsam aber sicher versiegt der Regen und die Sonne drückt durch. Als wir in den nächsten Bahnhof einfahren, schiesst der Anzugträger von seinem Platz auf und hastet zur Tür. Seinen Schirm lässt er liegen.
Ich hebe ihn auf, renne dem Anzugträger hinterher, will ihm den Verlust seines Schirms ersparen. Ich kenne schliesslich den Schmerz. Die Schande!
Kurz bevor er aus dem Zug steigen kann, habe ich ihn eingeholt. Ich tippe ihm auf die Schulter. Er dreht sich genervt zu mir um. Ich höre leise Musik, die aus seinen Kopfhörern schallt.
«Sie haben Ihren Schirm vergessen», sage ich mit einem Lächeln und will ihm den Schirm gleich aushändigen. Doch der Anzugträger murmelt etwas Unverständliches, schüttelt angeekelt die Schulter, die ich berührt habe, als hätte ich ihn gerade um Geld angebettelt, und steigt mit zwei schnellen Schritten aus.
Perplex stehe ich in der Zugtür. Den Schirm noch immer in der Hand. Und werde wütend.
Ich wollte doch nur nett sein. Habe ich in meiner feuchten Kapuzenjacke so schmuddelig ausgesehen? Und trotzig wie ein Kind, sage ich mir:
Seither darf mein Schirm durch Städte, Dörfer, Wälder und über Hügel mit mir mitkommen. Er ist jetzt frei. Glücklich. Das bilde ich mir zumindest ein.
Und ich kann dafür heute wie ganz normale Erwachsene mit Mantel und Regenschirm vor die Tür gehen. Nicht mehr in schmuddeligen Regenjacken.
Verloren oder irgendwo vergessen habe ich meinen Schirm noch nie. Wahrscheinlich, weil er mir durch seine Geschichte ans Herz gewachsen ist. Oder weil ich immer noch bizli hässig auf den Anzugträger bin.
Dafür habe ich vergangene Woche meinen Schal im Zug liegen lassen. Man kann eben nicht alles haben.