Leicht angebraten, komplett roh oder mit einem – natürlich rohem – Ei getoppt: Die «Carnivore Diet» kursiert immer wieder auf Social Media und zeigt vor allem eines: viel Fleisch. Gerade junge Männer finden sich in den Kommentaren und behandeln Influencer wie Paul Saladino aka Dr. Carnivore oder «Liver King» wie Gottheiten.
«Ich lerne jeden Tag etwas von dir! Ohne dich kann ich nicht leben», schreibt ein User unter Saladinos Tiktok. Der Influencer ist schon länger Teil der Carnivore-Bubble, zeigt seinen Followerinnen und Followern, wie man «richtig» Fleisch und Eier einkauft und wieso man mit einer tierisch basierten Ernährung auch Krankheiten «bekämpfen» kann.
Das hat nicht nur viele Nachahmer, sondern entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer richtigen Community. Allein unter dem Hashtag #carnivorediet finden sich auf Tiktok über 176'000 Beiträge.
Die Carnivore-Diät ist eine besonders strikte Variante der ketogenen Ernährung. Ziel ketogener Diäten ist es, die Aufnahme von Kohlenhydraten stark zu reduzieren und den Körper stattdessen über Eiweiss und Fett mit Energie zu versorgen.
Auch die Paleo- oder Steinzeitdiät zählt zu den ketogenen Ansätzen, die immer wieder für grosse Hypes in der Diät-Bubble sorgen. Sowohl die Paleo- als auch die Carnivore-Diät beruhen auf der umstrittenen Vorstellung, dass sich unsere Vorfahren vor allem von Fleisch und Fisch ernährt hätten – und daher der Verzicht auf moderne, verarbeitete Lebensmittel wie Brot oder Nudeln gesundheitliche Vorteile bringe.
Im Gegensatz zur Carnivore-Diät erlauben Paleo und klassische ketogene Diäten jedoch auch Nüsse, Gemüse oder bestimmte Früchte. Diese Formen der Ernährung schränken die Kohlenhydratzufuhr zwar stark ein, schliessen sie aber nicht vollständig aus.
Die Carnivore-Diät hingegen verzichtet komplett auf pflanzliche Nahrungsmittel und stellt damit die extremste Form einer kohlenhydratarmen Ernährung dar. Am besten sollen die Lebensmittel so roh wie möglich konsumiert werden, Fleisch und Eier inklusive.
Gegenüber watson hat Ernährungsmedizinerin Daniela Kielkowski schon vor den Folgen solcher Ernährungsansätze gewarnt: »Lebensmittel wie Milch, Fleisch und Eier können im rohen Zustand mit krankmachenden Bakterien belastet sein." Eine Unterbrechung der Kühlkette kann somit schon zu lebensbedrohlichen Folgen führen.
Ausserdem fehle laut der Expertin der wissenschaftliche Nachweis: «Es gibt Millionen von Ernährung-Hypes, die alle als wissenschaftlich gesichert dargestellt werden – damit bedienen sie sich der grossen Verunsicherung … Am Ende ist es jedoch so, dass es in der Ernährung für solche Aussagen nicht wirklich wissenschaftliche, kausale Beweise geben kann.» Hier warnt Kielkowski vor subjektiven Eindrücken, die auch Influencer-Videos suggerieren können.
Besonders skurril: Ausgrechnet Dr. Carnivore, also Paul Saladino, verabschiedete sich Ende 2023 überraschend von seinem Fleisch-only-Lifestyle – seine Testosteronwerte waren im Keller. Studien zeigen: Männer, die viel verarbeitetes Fleisch essen, haben nicht nur niedrigere Testosteronwerte, sondern auch weniger Spermien. Auf Tiktok propagiert der selbsternannte Ernährungsexperte dennoch weiterhin die Carnivore-Philosophie.
Aber auch die stereotypisch aufgeladenen Ansichten sind problematisch: Die Diät reproduziert ein überholtes Männlichkeitsideal, das körperliche Härte, Fleischkonsum und Disziplin als Zeichen von Stärke stilisiert – während Fürsorge für den eigenen Körper, Achtsamkeit oder ausgewogene Ernährung als «unmännlich» abgewertet werden.
@liverking 🥩🥚 Liver King Dinner! Steak and eggs.
♬ original sound - LIVER KING ⚔️ ANCESTRAL CEO ⚔️
In einem kürzlich erschienenen Beitrag von Nutrition Insight äussert sich Wissenschaftlerin Marlana Malerich zur Verbindung von Fleischkonsum und maskuliner Identität. Sie beschreibt, dass Essgewohnheiten historisch tief in patriarchalen Strukturen verwurzelt sind – Fleisch stehe dabei symbolisch für Macht und Männlichkeit, während pflanzliche Ernährung eher Frauen zugeschrieben wird.
Diese Haltung kann Männer davon abhalten, Warnzeichen ihres Körpers ernst zu nehmen, etwa Verdauungsprobleme, Erschöpfung oder langfristige Risiken wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Damit wird Ernährung zum Ausdruck toxischer Männlichkeitsnormen, anstatt ein Werkzeug für ganzheitliches Wohlbefinden zu sein. Und das nicht nur auf Kosten der körperlichen, sondern auch der psychischen Gesundheit.
Wozu dann die Eier? Man nimmt doch besser gleich das Huhn, mit Federn natürlich.
Genug Internet für heute...