Bloss Miesmuscheln statt Austern? So war das 9-Gang-Menü beim «Koch des Jahres»
Schon mal Toétché gegessen, den jurassischen Rahmkuchen mit salzigem Teig? Wer keine Grossmutter im Jura hat, dem wird dieses Glück wohl verwehrt bleiben. Oder aber er steckt ein paar hundert Franken ein und fährt nach Le Noirmont. Le – was?
Le Noirmont liegt im Jura an der Hauptstrasse zwischen Delémont und La Chaux-de-Fonds unweit von Saignelégier. Mehr als 1950 Einwohner hat es nicht, aber immerhin ein halbes Dutzend Restaurants: Darunter das «Maison Wenger» von Jérémy Desbraux. Und da, von Gault Millaus «Koch des Jahres» zubereitet, gibt es tatsächlich Toétché.
Wer solcherlei kulinarische Theatervorstellungen im Nirgendwo besucht, weiss: Hier liegt alle Konzentration auf dem Teller und im Glas. Und wer mit dem Zug nach Le Noirmont reist, klebt schon ab Biel mit der Nase an der Fensterscheibe: Die Gegend ist so verträumt und fern der Welt, dass einer aus Zürich meint, bald nicht mehr in der Schweiz zu sein, sich fragt, ob man noch auf Erden ist. Die Rinder, die Bienenhäuschen, die Kräuter, die Vögel, die Wälder voller Pilze, der Geruch von schleimigen Kuhnasen – alles vermengt sich im Kopf bereits zu einer Idee, die alsbald im «Maison Wenger» essbar wird. Danach weiss der Kochtopfpilger endgültig nicht mehr, ob er noch auf der Erde oder bereits im Paradies ist.
Von vorn? Vom Amuse Bouche die ganze Spur des Glücks entlang bis zu den Friandises mitsamt jurassischem Damassine-Schnaps? Noch so gerne! Die Ernennung von Jérémy Desbraux zum «Koch des Jahres 2026» ist nämlich folgerichtig – und sie kommt für diesen Koch zu einem perfekten Zeitpunkt, hat man doch im Winter das Restaurant komplett umgebaut – typisch für solcherart Lokale mit einem leicht protzigen Schick und kleinen Überflüssigkeiten. Egal. Auf den Tellern findet sich nichts Überflüssiges – und da wird auch nicht geprotzt. Jedenfalls nicht mit Zutaten.
Wer läuft am helllichten Tag mit der Kochhaube rum?
Kaum das Restaurant in Sichtweite, sehen wir Meister Desbraux. Nicht, dass wir ihn aus Distanz erkennen würden, aber wer, wenn nicht der «Koch des Jahres», darf am helllichten Tag auf der Strasse mit einer Riesenkochhaube – der Toque – herumlaufen, und nicht für verrückt erklärt werden? Wer, wenn nicht ein Charakterkopf wie Jérémy Desbraux kann sich das leisten?
Desbraux spricht akzentuiert, rasch und ohne Umschweife. Ein Franzose, der vor Selbstvertrauen strotzt. Dieser Mann geht am Morgen in die Küche wie ein Torero in die Arena – allerdings tötet er dort nicht, sondern erschafft Neues. Grandioses. Und seine Frau Anaëlle Roze giesst am Tisch das Wasser mit einer Coolness ein, für die sie selbst in Paris bewundert werden würde. Mit demselben nonchalanten Gestus steigt ihr Ehemann die Erfolgsleiter hoch. Zwei Michelin-Sterne hat er schon, 18 Gault-Millau-Punkte auch – wenig fehlt zur Krönung. Der Titel «Koch des Jahres» von Gault Millau ist ein zweitletzter Schritt auf den Olymp: zum dritten Stern wie zum 19. Punkt.
Er lächelt, wenn man davon zu sprechen beginnt: «Ja, ja, der dritte Stern – aber nicht dieses Jahr. Und klar, ich denke schon daran, aber er ist nicht nötig: Ich arbeite nicht dafür, sondern für mein Team, für die Kunden – dafür, dass hier alles funktioniert und klappt. Mit dem dritten Stern würde vieles kompliziert werden.» Und doch: Alles ist dafür vorbereitet.
Desbraux geht mit Risiko in die entscheidende Phase. Hummer, Gänseleber, Austern? Braucht er nicht unbedingt. Miesmuscheln statt Austern werden bei unserem Besuch Mitte September aufgetischt. Warum vermeintlich simple Miesmuscheln? «Weil es die Gäste mögen», antwortet er trocken. Alles in diesem Gericht, das mit einem Ratatouille-Jus serviert wird, ist geschmacklich klar erkennbar, da herrscht kein falscher Zauber.
Auf Eier könnte der Chef nie verzichten
Mit Artischocken verfährt Desbraux zu Beginn des grossen Menüs ähnlich – oder mit den fein geschnittenen Bohnen in Vinaigrette, die von einer zarten Tannensprossenschaum-Sauce aus den Höhenzügen des Doubs umspielt werden. Dieser Gang zeigt auch die Liebe zur Region. Bisweilen muss Desbraux weiterreisen für das perfekte Produkt: für die Artischockenherzen nach Barigoule in die Bretagne.
Wenn das pochierte Ei serviert wird – getarnt als geheimnisvoller Pilz –, weiss der Gast, warum Desbraux vor dem Essen erzählte, er könne auf viele Produkte, aber nicht auf Eier und Milchprodukte verzichten.
Ist, wer so kocht, zur Perfektion verdammt? Desbraux macht grosse Augen und sagt: «Ich liebe die Perfektion, ich suche sie sogar. Als ich die Gastronomie entdeckte, immer weiter aufstieg, da war mir klar: Ich liebe die Strenge, die Regeln.» Nichts Schlimmeres also, als wenn etwas nicht klappt, wenn es Fehler gibt?
Da er an eine Grenze gekommen ist, muss er auf Fehler vorbereitet sein – und sie im Prozess so früh wie möglich ausmerzen. «Sehe ich Fehler, dann darf ich nicht in Stress geraten, sondern weitermachen, an den Service denken. Danach redet man dann mit den Mitarbeitern.» Auf die Frage, ob ein Teller unperfekt auf den Tisch kommt, reagiert er energisch:
Erstaunlich: Kein Gang fällt ab. Und Desbraux lässt den Gast via seine Nase hineinschauen in die Küchenarbeit, hineinriechen: Die Bohne ist die Bohne, die Forelle die Forelle. Gleichzeitig verfeinert er diese Grundzutaten und erweitert sie lustvoll mit duftenden und optischen Überraschungen. So erhält die Forelle einen Verveinegeschmack und eine «natürliche» Zeichnung. Nur etwas macht er nicht: bluffen. Da ist keine Prise Salz zu viel, nichts zu scharf. Diese Zurückhaltung zeigt eben auch, dass Desbraux nicht am Aufsteigen, sondern auf einem Thron angekommen ist. Er zeigt seine eigene Kunst.
Wer zu viel denkt, ist selber schuld
Wenn der flinke Service kurz nach dem letzten Schleck abräumt, will man die leere, mit Brot aus- und aufgeputzte Fläche betrachtend, den Teller zurückhalten, will all das, was da in der Kehle und in den Mundhöhlen so wunderbar duftet und wirkt, nochmals erstehen lassen – ja festhalten. Doch was soll's: Wir stecken in der Abfolge des grossen Menüs (305 Franken), die Höhepunkte mitsamt selbstgebackenem Brot und Weinbegleitung überschlagen und übertrumpfen sich bis zum Dessert. Wer dabei allerdings zu viel nachdenkt, ist selbst schuld, bringt sich um das Vergnügen.
Nix wie hin. Aber aufgepasst, ab jetzt – der Ernennung zum «Koch des Jahres» von «Gault Millau» –, wird das Telefon im «Maison Wenger» lange Zeit nonstop läuten, viele werden um einen Tisch betteln. Desbraux weiss, was auf ihn zukommt, lächelnd sagt er: «Wir sind vorbereitet, haben in die Zukunft investiert.» Und Toétché hat es ganz bestimmt auch für alle.