Die Zeit ist eine merkwürdige Angelegenheit. Sie schreitet unaufhaltsam und unumkehrbar fort. Und obwohl der Sekundenzeiger einer Uhr immer gleich schnell läuft – zumindest in unserer Alltagswelt –, kommt es uns zuweilen vor, die Zeit vergehe mal schneller, mal langsamer. Jeder kennt dieses Phänomen: Hat man es eilig und muss an der Ampel warten, dauert jede Minute eine Ewigkeit; feiert man eine Party, fliegen die Stunden nur so dahin.
Die Plastizität der empfundenen Zeitdauer zeigt sich aber nicht nur an der Ampel oder an einer Party. Es geht um das den meisten Leuten bekannte Gefühl, dass die Zeit früher langsamer verstrich und mit zunehmendem Alter immer schneller läuft. Gemäss einer Studie der Psychologen Marc Wittmann und Sandra Lehnhoff mit Versuchspersonen zwischen 14 und 94 Jahren haben ältere Erwachsene im Vergleich zu jüngeren durchschnittlich eher das Gefühl, dass die letzten zehn Jahre schneller vergangen seien und die Zeit nun schneller verstreiche.
Es scheint sich dabei um ein kulturell universelles Phänomen zu handeln, wie eine Studie der Psychologin Ruth Ogden nahelegt. So waren in Grossbritannien 76 Prozent der Befragten der Meinung, Weihnachten komme gefühlt jedes Jahr schneller. Im Irak teilten 70 Prozent diese Meinung bezüglich des Ramadans.
Warum das so ist, hat sich wohl schon jeder mal gefragt. Eine naheliegende Erklärung beruft sich auf eine mathematische Tatsache: Für einen Sechsjährigen ist ein Jahr ein Sechstel seiner gesamten bisher erlebten Lebenszeit, während es für einen 60-Jährigen nur gerade ein Sechzigstel ausmacht. Diese Erklärung hat freilich nur Sinn, wenn wir tatsächlich die Zeit, die wir erleben, ins Verhältnis zur Zeit setzen, die wir bereits erlebt haben. Wittmann, Psychologe am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg, sieht dies skeptisch; er bezweifelt, dass unser Gehirn sozusagen berechnet, wie viel ein Jahr im Verhältnis zur erlebten Lebensdauer ausmacht.
Der Psychologe sieht hier einen anderen Mechanismus am Werk: Je mehr Emotionales man erlebt hat, desto länger kommt einem ein Zeitraum im Rückblick vor. «Ich kann ja die letzten zehn Jahre nicht in mich hinein fühlen», erklärt Wittman dem MDR. «Sondern das, was ich erlebt habe, das generiert sozusagen mein Gefühl von Zeit.» Die Vergangenheit existiert schliesslich nur in unserer Erinnerung, und die wahrgenommene Dauer vergangener Ereignisse hängt stark mit der Menge neuer kognitiver Erfahrungen zusammen.
Dabei spielt aber nicht nur die Anzahl der Erinnerungen eine Rolle, sondern auch deren Qualität: Je stärker sie emotional aufgeladen sind, desto intensiver wirken sie. «Emotion ist ein bisschen so wie der Klebstoff fürs Gedächtnis. Das verbindet alle Dinge, die bekommen eine Bedeutung. Alles, was bedeutungsvoller ist, emotionaler, das kann ich besser erinnern. Das führt dann zu dieser retrospektiven Zeitdehnung», stellt Wittmann fest. Auch Dinge, die neu sind oder die wir zum ersten Mal tun, bleiben besser im Gedächtnis haften.
Dies lässt sich an einem Beispiel illustrieren: Verbringen wir eine Woche in den Ferien und nehmen dort jeden Tag neue, intensive Eindrücke auf, vergeht die Zeit zwar wie im Flug. Im Rückblick aber dehnt sich die Zeit, da wir uns an eine Fülle von Eindrücken erinnern können. Umgekehrt mag eine Arbeitswoche voller Routineaufgaben kaum enden wollen, doch wenn wir uns später an sie erinnern, erscheint sie uns kurz, weil da kaum neue Eindrücke abgespeichert wurden. Wittmann nennt dies das Zeitparadox.
Auf das ganze Leben übertragen bedeutet dies, dass jene Zeiten, in denen wir viel Neues und emotional Eindrückliches erleben, im Rückblick länger erscheinen. Dies ist vornehmlich in Kindheit und Jugend der Fall – Lebensabschnitte, in denen es unzählige «erste Male» gab. Je älter wir werden, desto seltener werden solche Ereignisse, desto mehr bestimmt Routine das Geschehen. Entsprechend weniger «mentale Wegmarken», an die wir uns später erinnern können, legt unser Gehirn an.
Wie die Zeitwahrnehmung im Gehirn genau funktioniert, ist allerdings nach wie vor ein Rätsel. Sicher ist: Wir verfügen nicht über einen eigenen Sinn, um Zeit zu messen; unser Zeitgefühl beruht vermutlich auf der Zusammenarbeit unterschiedlicher Hirnregionen, wobei unterschiedliche Systeme bei der Beurteilung verschiedener Zeitintervalle beteiligt sind.
Während die retrospektive Zeitwahrnehmung mit der Menge und Intensität der gespeicherten Erinnerungen zu tun haben scheint, ist weniger klar, welcher Mechanismus das momentane Zeitempfinden regelt. Derzeit sind es vornehmlich zwei Theorien, die als Erklärung herangezogen werden: Für Zeiträume von ein bis zwei Sekunden scheint der Botenstoff Dopamin eine wichtige Rolle zu spielen. Das Hormon beeinflusst offenbar ein System im Gehirn, das wie ein Taktgeber funktioniert und regelmässig Impulse generiert. Dopamin scheint die Impulsrate zu steigern, was dazu führt, dass die innere Uhr schneller abläuft.
Bei längeren Zeitintervallen von mehreren Sekunden Dauer hingegen ist gemäss Wittmann die Insula massgebend. In dieser Hirnregion, die zum Kortex gehört, werden Informationen über den Zustand des Körpers – etwa Herzschlag, Temperatur, Position im Raum, Hunger und so weiter – mit Informationen aus der Umwelt abgeglichen. Daraus entsteht ein Gefühl für Raum und Zeit. Möglicherweise vermittelt der kontinuierliche Eingang von Signalen aus dem Körper ein Gefühl für die Zeit. Jedenfalls ist die Insula bei der Zeitwahrnehmung aktiv.
Zwei Mechanismen könnten hier die subjektive Zeitwahrnehmung beeinflussen, glaubt Wittmann: Aufmerksamkeit und Erregungszustand des Körpers. Indem sie die Zahl der registrierten Impulse verändern, lassen sie die innere Uhr langsamer oder schneller laufen. Ein Beispiel ist die bekannte «Schrecksekunde», in der alles wie in Zeitlupe abzulaufen scheint: Dies geschieht, weil Hormone ausgeschüttet werden, die den Körper in einen Erregungszustand versetzen und so die Impulsrate verändern. (dhr)