Routine-Kontrolle in Bad Zurzach AG: Zwei Grenzwächter wollen einen schwarzen VW Passat stoppen. Der Wagen ist teilweise gold-beige lackiert. Das Nummernschild ist aus Deutschland, aber nicht aus dem grenznahen Waldshut. «Das Auto passte nicht in den Verkehr», werden sie später aussagen. Doch der Lenker hält nicht an. Er gibt Gas und rast davon.
Die Grenzwächter folgen ihm mit Blaulicht und Sirene. Nach einer Verfolgungsjagd geraten sie auf der Autobahn A50 plötzlich in stockenden Kolonnenverkehr. Baustelle. Der flüchtige Fahrer durchbricht eine Abschrankung und versucht, auf der gesperrten Überholspur weiterzurasen. Doch nach der Baustelle endet seine Spur. Er muss anhalten.
Die beiden Grenzwächter nähern sich ihm auf der normalen Spur. Sie steigen aus und ziehen ihre Pistolen. Ein Grenzwächter positioniert sich neben dem rechten Hinterrad des VW Passat, die Pistole im Anschlag. Da rast der Wagen plötzlich rückwärts.
Der Grenzwächter ist von der Verfolgungsjagd vollgepumpt mit Adrenalin. Sein Herz rast. In Sekundenbruchteilen muss er einen Entscheid fällen. Er drückt ab – fünfmal. «Ich wusste in diesem Moment einfach, dass ich dieses Fahrzeug stoppen musste», sagt der Grenzwächter später vor Gericht. Denn er habe es nicht nur mit einem Geister-, sondern auch mit einem Amokfahrer zu tun gehabt.
Der erste Schuss bleibt in der hinteren linken Türe stecken. Der zweite zertrümmert den rechten Seitenspiegel sowie das Beifahrerfenster und bleibt in der Rückenlehne eines Hintersitzes hängen. Dieser oder der nächste Schuss durchdringt den rechten Oberarm des Lenkers.
Der vierte Schuss landet im Batteriekasten. Der fünfte Schuss durchbricht die Windschutzscheibe und bohrt sich in die Kopfstütze des Beifahrersitzes. Doch der Deutsche rast weiter rückwärts durch die Baustelle und fädelt sich danach wieder in den Verkehr ein.
In Rorbas errichtet die inzwischen alarmierte Zürcher Kantonspolizei eine Sperre. Der Mann umfährt sie. Die Polizisten versuchen ebenfalls, ihn mit Schüssen zu stoppen. Wieder rast er davon. Eine Kamera eines Polizeiautos dokumentiert die Fahrt. Der flüchtige Autofahrer wechselt in Kurven auf die Gegenfahrbahn. Zum Glück kommt niemand entgegen.
Auf einer Nebenstrasse in Pfungen ZH verliert er die Kontrolle über sein Auto. Es kommt an einem Waldrand zum Stillstand. Der Mann versucht, davonzurennen. Erst nach einem Warnschuss lässt er sich verhaften.
Ein Gericht verurteilt den Deutschen wegen seiner Raserfahrt. Das Auto beschreibt er vor Gericht als seine Wohnung. Er war arbeits- und obdachlos. Deshalb habe er sich nicht kontrollieren lassen wollen. Doch wenn die Grenzwächter ihn nicht mit Blaulicht und Sirene verfolgt hätten, wäre er nicht so gerast, meint er.
Auch gegen die Zürcher Polizisten eröffnet die Justiz ein Strafverfahren – wie bei jeder Schussabgabe. Das Resultat: Die Schüsse der Polizisten waren verhältnismässig. In der Schweiz setzen Polizisten ihre Waffen selten ein: sechsmal pro Jahr.
Doch gegen den Grenzwächter läuft noch immer ein Verfahren. Seit elf Jahren. Denn der Fall ereignete sich vor langer Zeit: am 19. November 2012. Trotzdem liegt noch immer kein rechtskräftiges Urteil vor. Fest steht mittlerweile, dass er eine versuchte Tötung begangen hat. Hängig ist, welche Strafe dafür gerecht ist.
Der Beschuldigte lebt mit seiner Familie im Aargau, er diente einst in der Schweizergarde und engagiert sich in seinem Dorf und in seiner Kirche. Heute ist er 44 Jahre alt. Er arbeitet noch immer als bewaffneter Grenzwächter. Auf Anfrage verzichtet er auf eine Stellungnahme.
Der Fall dauert aus zwei Gründen so lange. Erstens, weil die dafür zuständige Militärjustiz im Schneckentempo arbeitete. Sie benötigte schon nur vier Jahre, um das Verfahren einzustellen. Danach kam es auf dem Weg durch die Instanzen zu einem Hin und Her. Auf einen Schuldspruch folgte ein Freispruch, den jedoch das höchste Militärgericht wieder aufgehoben hat.
Dieses Ringen um den Fall zeigt zweitens, wie schwierig die Beurteilung ist. Wie soll ein Ordnungshüter in Sekundenbruchteilen entscheiden, ob er abdrücken darf oder nicht?
In der Theorie muss er eine Interessenabwägung vornehmen. In einer Fluchtsituation darf er schiessen, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, schwere Straftaten zu verhindern. Unbeteiligte darf er dabei aber nicht gefährden.
Die Militärjustiz kommt zum Schluss, dass Schüsse auf fahrende Fahrzeuge in einer derartigen Situation unverhältnismässig seien. Bei solchen Verfolgungsjagden entstehe eine «Art Zweikampf», der nicht durch vernünftige Überlegungen, sondern instinktive Reaktionen geprägt sei.
Doch mit der Bestrafung tun sich die Gerichte schwer, weil sie anerkennen, dass der Täter eigentlich nur seinen Job machen wollte. Er meinte es gut, handelte aber falsch. Die aktuell letzte Instanz, das Militärappellationsgericht, hat deshalb eine gewagte juristische Argumentation aufgebaut, um die tiefstmögliche Strafe zu begründen: eine bedingte Freiheitsstrafe von einem Jahr. Der Grenzwächter müsste also nicht ins Gefängnis.
Die Argumentation geht so: Er habe sich zwar nicht in einer Notsituation befunden, die seine Tat rechtfertige oder entschuldige. Aber dennoch handle es sich um eine Notsituation, die eine Strafmilderung zulasse. Der militärische Staatsanwalt und der Privatkläger, der deutsche Autofahrer, haben Beschwerde erhoben.
Deshalb behandelt das höchste Militärgericht den Fall am Donnerstag erneut. Es ist gut möglich, dass dieses das verhängte Strafmass wieder aufheben wird. Dann wird das Verfahren noch länger dauern und es würden vermutlich noch ein paar Monate Freiheitsstrafe hinzukommen.
Aus Sicht des Privatklägers ist die verhängte Strafe viel zu mild. Sein Anwalt Duri Bonin sagt: «Wenn alle Polizisten so herumschiessen würden wie dieser Grenzwächter, hätten wir Zustände wie in den USA.» Und: «Stellen Sie sich vor, es wäre umgekehrt. Eine Privatperson würde so auf einen Grenzwächter schiessen. Das gäbe eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren.»
Die Justiz sei bei Polizeifällen teilweise blind. Nur weil sich Polizisten und Grenzwächter auf einer vermeintlich gerechten Mission gegen «das Böse» befänden. «Dabei wäre es gerade hier besonders wichtig, dass die Regeln des Staates eingehalten werden», meint der Anwalt.
Ganz anders sieht dies der Verteidiger. Er beschreibt den Grenzwächter als friedfertige Person, die an diesem Tag vor elf Jahren nur ihre Aufgabe erfüllen wollte. (aargauerzeitung.ch)
Finde den Fehler?
Die Beamten konnten nicht erkennen, dass es sich um einen "vermeintlichen Arbeits- und Odachlosen" handelt und nicht um einen Schwerkriminellen.
Deswegen sollte der Fahrer ja auch kontrolliert werden.
Der Kontrolle hat sich der Fahrer ja auch mit Höchstgeschwindigkeit entzogen.