Kurz vor Bern stockt es auf der Autobahn A1. Statt mit den erlaubten 60 km/h rollen die Autos und Lastwagen nur noch mit 15 km/h ihrem Ziel entgegen.
Immerhin stehen die Autos nicht still. Sie kommen voran. Langsam.
Zwei der insgesamt sechs Ausbauprojekte, über die das Stimmvolk am 24. November abstimmen wird, sind genau hier geplant. Zwischen Schönbühl und Kirchberg soll in beiden Fahrtrichtungen eine Spur hinzukommen. Von vier Spuren würde die Autobahn auf sechs ausgeweitet.
Zwischen Wankdorf und Schönbühl ist die A1 bereits sechsspurig. Darum soll auch hier in beide Fahrtrichtungen eine weitere Spur hinzukommen. Mit dem Resultat: der erste achtspurige Autobahnabschnitt der Schweiz.
Die Befürworterinnen und Befürworter des Ausbaus argumentieren damit, dass die Verkehrssituation hier auf der A1 «unhaltbar» ist. Stimmt das? Wie sehen das die betroffenen Autofahrer und Anwohnerinnen?
Genau dort, wo die Autos mit 15 km/h vor sich hin rollen, befindet sich die Tankstellenraststätte Ittigen. Eine Frau läuft mit Essen in den Händen aus dem Shop. Für sie ist klar: Die Situation auf dem Autobahnabschnitt ist unzumutbar. Sie sagt:
Heute sei sie um 6.30 Uhr in Basel gestartet, da sie dort übers Wochenende ihre Eltern besucht habe. Sie seien auf Hilfe angewiesen. Ihr Ziel: Vevey, wo sie wohne. Zwei Stunden sollte die Fahrt eigentlich dauern. «Heute werde ich voraussichtlich drei Stunden unterwegs sein. Gleich lang wie mit dem Zug», sagt sie.
Warum sie dann nicht den Zug genommen habe? «Eine gute Frage. Heute hätte sich das wirklich gelohnt. Dann hätte ich auf der Fahrt wenigstens noch ein bisschen arbeiten können», sagt sie. Manchmal nehme sie für diese Strecke den öffentlichen Verkehr. Aber je nach Gepäck und sonstigen Aufgaben, die sie zu erledigen habe, sei es eben praktischer, das Auto dabei zu haben.
Es ist die erste von vier Standardantworten, die man an diesem Morgen von den Autofahrenden erhält, wenn man sie fragt, warum sie nicht auf Bus und Bahn umsteigen. Die zweite Begründung lautet: Mit dem Auto ist man selbst bei Stau schneller als mit dem ÖV.
So erklärt ein Mann auf der Raststätte, sein Arbeitsweg dauere ohne Stau 15 Minuten, mit Stau das Doppelte. Verdoppelt man diese Zeit nochmals, erhält man die Dauer, die er mit dem Zug und Bus unterwegs sein würde: eine Stunde. «Also bleibe ich beim Auto. Und ich stimme Ja beim Autobahnausbau.»
Der dritte Grund, den viele angeben: Sie sind beruflich auf das Auto angewiesen. So auch ein Autopendler, der auf dem Parkplatz hinter dem Steuer sitzt, Laptop auf dem Schoss. Arbeitend wartet er ab, dass sich der Stau auflöst. Er brauche sein Auto, weil er von Kunde zu Kundin fahren müsse. An gewisse Orte würde er mit dem ÖV gar nicht hinkommen. Und wenn doch, dann nur sehr mühselig und langsam.
Mit dem Stau geht er relativ locker um. Er stelle sich jeweils darauf ein. Trotzdem findet er: «Man muss schon etwas machen bei der Verkehrsinfrastruktur.» Ob der Ausbau der Nationalstrassen der richtige Weg sei, wisse er nicht. Er hoffe es. Darum sei er «eher für den Autobahnausbau».
Der vierte Grund, der aus Sicht eines Autopendlers gegen den ÖV spricht, ist: Geld. Er sagt:
Zudem seien die Züge ebenso überfüllt wie die Strassen. Zumindest auf der Strecke, die er zurücklegen müsste: Schönbühl – Bern. Darum bleibe er beim Auto, auch wenn er so täglich bis zu einer Stunde Zeit im Stau verliere.
Trotzdem ist er gegen den Autobahnausbau:
Für diese kurzweilige Entlastung sollten keine wertvollen Landwirtschaftsflächen geopfert werden, findet er. Zumal aus seiner Sicht das Problem woanders zu verorten ist:
Schuld daran sei die masslose Zuwanderung.
Es stimmt, dass die Bevölkerung in der Schweiz stark zugenommen hat. 1964, als die Schweiz mit der A1 ihre erste Autobahn eröffnete, zählte das Land 5,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Heute bewegen wir uns auf 10 Millionen Menschen zu.
Der Individualverkehr hat exponentiell zugenommen. Das Auto ist kein Luxusobjekt mehr, es ist ein Massenprodukt. 2023 zählte das BFS 6,8 Millionen Fahrzeuge im Land. Der Grossteil davon, 4,8 Millionen, sind PKWs.
Ändert sich nichts an unserer Verkehrspolitik und unserem Mobilitätsverhalten, wird der Schönbühler Autopendler Recht behalten. Der Verkehr wird proportional zur Bevölkerung zunehmen. Das hat das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) selbst bis zum Jahr 2050 berechnet.
Es muss aber nicht zwingend so weit kommen. Weil unser Verkehrsaufkommen von deutlich mehr Faktoren abhängt als nur vom Bevölkerungswachstum. Das ARE schreibt:
Das ARE kommt in einem anderen Rechenmodell zum Schluss, dass es in der Schweiz sogar möglich wäre, dass der Verkehr deutlich langsamer zunimmt als die Bevölkerung. Während die Bevölkerung um 21 Prozent wachsen würde, nähme der Verkehr nur um 11 Prozent zu.
Damit dieses optimistische Szenario Realität werden kann, muss gemäss ARE aber das ÖV-Netz ausgebaut werden. Die Menschen müssten mehr Zug, Bus und Tram fahren. Und wenn sie doch auf den Strassen unterwegs sein wollen, müssten sie ihre Autos mit mehr Personen auslasten als heute. Sprich: vermehrt Fahrgemeinschaften bilden. Das ARE hält zudem fest, dass der Anteil an mittelgrossen und grossen Personenwagen sinken müsste.
In der Realität entwickeln wir uns allerdings genau in die entgegengesetzte Richtung.
Wer an diesem Morgen in die Fahrzeuge schaut, die im Stau stehen, dem fällt auf: In so gut wie allen befindet sich nur eine einzige Person. Das passt in die Statistik des Bundes aus dem Jahr 2021: 92 Prozent der Leute fahren allein in ihrem Auto zur Arbeit. Nur sechs Prozent fahren zu zweit. Ein verschwindend kleiner Anteil fährt zu dritt oder mit mehr Personen.
Gleichzeitig werden unsere Autos seit Jahren immer grösser. Heute sind PKWs im Schnitt 12,3 Zentimeter breiter und 15 Zentimeter länger als noch in den 1990er-Jahren, wie das Center Automotive Research (CAR) an der Universität Duisburg-Essen 2021 berechnet hat.
Am eindrücklichsten zeigt sich diese Entwicklung anhand des Beispiels VW Golf. Das erste Modell, der VW Golf 1, der von 1974 bis 1983 hergestellt wurde, verbrauchte auf der Strasse hochgerechnet 8,422 Kubikmeter Platz. Das neuste Modell, der VW Golf 8, der 2019 auf den Markt kam, verbraucht 11,211 Kubikmeter. Sprich: 33 Prozent mehr Platz.
Besonders zugelegt hat der VW Golf in seiner Länge. Waren es 1974 noch 371 Zentimeter, ist das Modell heute 429 Zentimeter lang. Das ist eine Zunahme von 15 Prozent.
Diese Entwicklung könnte im Verkehr durchaus spürbar sein. Auf der Fläche, die 1974 sieben VW Golf 1 bei Stau einnahmen, haben heute bei gleichem Abstand nur noch sechs VW Golf 8 Platz.
Zusammenfassend sind heute also nicht nur mehr Autos unterwegs. Der einzelne Autofahrer beansprucht auch mehr Platz auf den Strassen und somit im öffentlichen Raum.
Eine weitere interessante Entwicklung ist, dass auch die Masse unserer Autos im Schnitt zugenommen hat. Und mit dieser Masse steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Unfall, wie verschiedene Studien nahelegen. Auch das hat Einfluss darauf, ob sich Stau entwickelt. Ganz besonders auf der Strecke zwischen Kirchberg und Bern Wankdorf, wo die Autobahn ausgebaut werden soll.
An diesem Montagmorgen hat sich zum Glück kein Unfall ereignet. Hätte es das, würde alles stillstehen, sagt eine Anwohnerin in Kirchberg. «Dann ist schon vor der Autobahneinfahrt Stau bis zu uns ins Dorf», sagt sie. Laut für Anwohnende und gefährlich für Velofahrerinnen und Fussgänger werde es dann in den Gemeinden entlang der A1. Wegen des Ausweichverkehrs.
Genau diese Dörfer wird der Autobahnausbau entlasten, verspricht der zuständige Bundesrat Albert Rösti im Abstimmungskampf stetig. Ein pensionierter Anwohner, den watson auf dem Trottoir im Zentrum von Kirchberg antrifft, glaubt diesen Worten nicht. Dasselbe habe man ihnen schon beim Bau der Umfahrung versprochen. Diese habe zwar etwas geholfen. Zu Stosszeiten stauten sich aber trotzdem noch zahlreiche Lastwagen und PKWs im Dorfkern und verbreiteten Lärm und Abgas. Der Pensionär sagt:
Eine andere Anwohnerin in Kirchberg ist täglich vom Stau betroffen. Eigentlich bräuchte sie nur fünf Minuten via Autobahn zur Arbeit. Mit Stau oder Umfahrung würden es aber so gut wie jeden Tag 15 Minuten. Trotzdem ist sie gegen den Autobahnausbau. Sie sagt:
Dabei würde sie noch so gerne vom Auto wegkommen. Mit dem Elektrovelo zur Arbeit pendeln, das fände sie schön. Aber gute, durchgehende Velowege gebe es nicht. Darum sei das keine Option für sie. Schliesslich fühle sie sich auf den Strassen bereits im Auto unwohl. «Die Leute fahren immer aggressiver. Alle sind gestresst.» Warum sollten sie auf dem ersten achtspurigen Autobahnabschnitt der Schweiz weniger gestresst sein?
Genau mein Humor.
Das Problem sind nicht die Autobahnen sondern dass alle gleichzeitig losfahren.
Ich fahre etwa um 6:00 los und bin 6:35 mitten in der Stadt Basel ohne Stau. Würde ich später losfahren, stünde ich spätestens bei Augst bis Basel im Stau. Beim Heimweg genau so: um 15 Uhr ist nix los, um 17 Uhr Stau ohne Ende.
Nein zum Autobahnausbau, Ja zu flexiblen Arbeitszeiten.