Die Service-Citoyen-Initiative: Ein Kampf um Unterschriften, Geld und das Milizsystem
Ein halbes Jahr, nachdem Noémie Roten die Kampagnenleitung der Service-Citoyen-Initiative übernommen hatte, ist ihr Optimismus der Ernüchterung gewichen. «Zu diesem Zeitpunkt hatten wir keine 10'000 Unterschriften gesammelt», erzählt sie am Telefon.
Dann tut sie, was nur wenige in dieser Situation täten: Sie kündigt ihren Job.
Es ist der zweite Anfang für die wundersame Geschichte dieser Volksinitiative. Die Initiative, die ausser der GLP keine grosse Partei unterstützt, deren Budget höchst überschaubar ist und die vielleicht gerade darum ein grelles Schlaglicht auf den Berner Politbetrieb wirft.
«In der Schweiz ist es einfacher, Geld zu sammeln, als Unterschriften»
100'000 Unterschriften braucht es in der Schweiz, um eine Idee vors Volk zu bringen. Keine grosse Sache, denkt sich Roten, die von der Genialität ihrer Initiative überzeugt ist. Diese verlangt, dass Frauen wie Männer künftig einen Dienst an der Allgemeinheit leisten. Im Umwelt- und Katastrophenschutz, im Gesundheitswesen, aber auch in der Armee. Roten will damit die Miliztradition der Schweiz stärken, den Sinn fürs Gemeinsame stählen. So zumindest die Theorie.
In der Realität bleiben trotz grossem Enthusiasmus viele Unterschriftenbögen leer. Das Lauffeuer, das sich Roten vorgestellt hatte, bleibt aus. «Es brauchte einen Strategiewechsel», sagt sie. Roten macht sich auf die Suche nach finanzkräftigen Unterstützern – und wird fündig. Nach einigen Wochen hat sie 100'000, bald 200'000 Franken gesammelt. Sie begreift: «In der Schweiz ist es einfacher, Geld zu sammeln, als Unterschriften für eine Initiative.»
Als spendabel erweist sich unter anderem die Familie Gueissaz aus der gehobenen Neuenburger Mittelschicht. In der Summe hätten deren Mitglieder wohl etwas über 100'000 Franken beigesteuert, schätzt Pascal Gueissaz. «Das ist kein Zufall», sagt er. In seiner Familie schätze man den Milizgedanken eben sehr.
Doch auch das ist eine Eigentümlichkeit dieser Initiative. Normalerweise erfährt die Öffentlichkeit nicht, wer einem Volksbegehren im Sammelstadium finanziell unter die Arme greift. Die Transparenzregeln der Eidgenössischen Finanzkontrolle greifen zu diesem Zeitpunkt nicht, sondern erst im Abstimmungskampf.
Ein handfester Skandal als Nebenprodukt
Für Noémie Roten bedeutet das Sponsoring die Rettung. Damit heuert sie mehrere Firmen an, die das Unterschriftensammeln zum Geschäftsmodell gemacht haben. Bekannt waren die Firmen Incop und Pôle Swiss. Daneben gab es noch weitere: Vox Communications und Sammelplatz Schweiz etwa, die Firma der Zürcher SVP-Kantonsrätin Susanne Brunner.
Doch schnell kommen Probleme zum Vorschein. Die Unterschriftenbögen weisen Unregelmässigkeiten auf. Adressen, die es gar nicht gibt, Geburtstagsdaten, die nicht stimmen können. Roten wählt den Gang an die Öffentlichkeit. Die zwielichtigen Geschäftspraktiken von Incop und Pôle Swiss bringt sie zur Anzeige. Sie machen bald schweizweit als «Unterschriftenbschiss» Schlagzeilen. «Die gekaufte Demokratie», titelt der «Tages-Anzeiger».
Nun muss man wissen, dass viele Initianten auf professionelle Hilfe zurückgreifen, besonders wenn es eng wird mit der Sammelfrist. Was kaum öffentlich wird, ist hingegen das Ausmass. Auch diesbezüglich zeigt sich Roten schonungslos transparent: Insgesamt sammelten die genannten Firmen zwischen 40'000 und 50'000 Unterschriften für die Service-Citoyen-Initiative. Nur dank dieser gekauften Unterschriften kommt die Initiative Ende November überhaupt an die Urne.
Die Initiative, die zum KMU wird
So ganz wohl ist Roten bei dieser Sache allerdings nicht, wie sie in einem Newsletter an mögliche Unterstützer offenlegt. «Wir sind uns sehr bewusst, dass es für die Firmen in dem Bereich eine stete Gratwanderung zwischen Effizienz und Ethik ist», schreibt sie.
Deshalb, vielleicht aber auch weil sie eine gewiefte Ökonomin ist, geht Roten noch einen Schritt weiter. Sie übernimmt das Geschäftsmodell der Sammelfirmen und baut ihre Initiative zum KMU um. Sie schreibt, sie wolle «möglichst viele bezahlte Sammlerinnen und Sammler selbst einstellen und ausbilden». Das Initiativkomitee suche deshalb 40 Sammlerinnen und Sammler, «um die Sammlung richtig anheizen zu können». Eine Ethik-Charta legt die Richtlinien dafür fest.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Ausgerechnet die Initiative für Freiwilligenarbeit findet nicht genügend Leute, um sich in Fronarbeit zu engagieren. Zwischen 2.50 und 3.50 Franken bezahlt das Komitee den eigenen Leuten pro gesammelter Unterschrift. Das ist deutlich weniger, als Incop und Konsorten verlangen. Von der Blackout-Initiative ist bekannt, dass sie bis zu 7.50 Franken pro Unterschrift bezahlt hat.
Mit diesem Kniff erlangt Roten weitere 20'000 Unterschriften. Den Rest steuern Freiwillige und Partnerorganisationen bei. Damit ist klar: Mehr als die Hälfte der nötigen Unterschriften für das Zustandekommen der Service-Citoyen-Initiative sind gekauft.
Nur eine, so scheint es, lässt sich ihr Engagement für die Freiwilligkeit nicht bezahlen: Noémie Roten. Den Job als Kampagnenchefin erledigt sie mehr als ein Jahr lang im Ehrenamt. Über Wasser hält sie sich mit ihrem Ersparten und einer kleinen Erbschaft, die ihr Vater hinterliess. «Mit 3000 Franken im Monat kann man in der Schweiz überleben – und Zeit für grosse Ausgaben hatte ich sowieso keine», sagt die Genferin.
Nicht nur die Service-Citoyen-Initiative: Auch Noémie Roten selbst ist im Schweizer Politbetrieb eine ziemliche Ausnahmeerscheinung. (aargauerzeitung.ch)
