In zwei Jahren ist es so weit: Im Dezember 2026 wird erstmals eine 13. AHV-Rente ausbezahlt. Das Votum der Stimmbevölkerung vom März war mit über 58 Prozent Ja mehr als deutlich, sie will die erste Säule aufstocken. Experten erklären im Nachhinein das Volksverdikt mit einem gewissen «Jetzt sind wir an der Reihe»-Egoismus, insbesondere der älteren Generationen, aber auch mit der vergleichsweise hohen Inflation sowie den steigenden Mieten und Krankenkassenprämien.
Die schwindende Kaufkraft mache eine Erhöhung der AHV-Rente nötig, war zu hören. Aus Solidarität mit Rentner und Rentnerinnen haben deshalb auch Jüngere für einen Ausbau gestimmt. Vielleicht auch, weil viele an einen «Mythos» glauben, wie Jérôme Cosandey von der wirtschaftsnahen Denkfabrik Avenir Suisse festhält. Jenem, dass Rentner immer ärmer würden. «Aber das ist falsch», sagt der Ökonom und verweist dabei auf seine neue Studie «Altersvorsorge neu gedacht».
Gemäss dem Avenir-Suisse-Papier sind 80 bis 90 Prozent der Rentner finanziell unabhängig. Zudem verfügten sie über ein bis zu sechsmal höheres Median-Nettovermögen als Erwerbstätige. Letzteres hat wohl auch mit der längeren Lebenserwartung und den späten Erbschaften zu tun. Fast die Hälfte aller Erbschaften geht an Personen, die 60 Jahre alt sind oder älter. Das jedenfalls geht aus den Zahlen für 2022 hervor, die Marius Brülhart, Wirtschaftsprofessor an der Universität Lausanne, ausgewertet hat.
Die gute Situation verdanken die Rentner und Rentnerinnen aber vor allem dem vor gut fünfzig Jahren initiierten Drei-Säulen-Modell, wie Cosandey festhält. Dieses habe sich durch alle Krisen als sehr resilient erwiesen. Dieses Modell sei so robust, weil es auf unterschiedlichen Prinzipien beruhe. Die erste AHV-Säule basiert auf dem Umlageverfahren, bei dem die Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden von heute solidarisch die Renten der aktuell Pensionierten bezahlten. Bei der zweiten, obligatorischen Säule, der beruflichen Vorsorge, und der dritten, freiwilligen Säule hingegen, spart jeder für sich. «Das ist Diversifikation», sagt Cosandey. Die AHV sei dem Demografierisiko in der Schweiz ausgesetzt, die berufliche Vorsorge und Säule 3a hängten von den internationalen Finanzmärkten ab.
«Alter ist per se deshalb kein Armutsrisiko mehr», sagt Cosandey. Nur noch eine kleine Minderheit der Rentner sei von Armut betroffen. Das heisst, sie muss Monat für Monat mit weniger auskommen als den behördlich festgelegten Werten der Armutsgrenze. Diese liegen für das laufende Jahr bei 2284 Franken pro Monat für eine Einzelperson oder bei 4010 für ein Paar mit zwei Kindern.
Avenir Suisse hat anhand der Zahlen des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) die Situation der Neurentner genauer analysiert, weil dort die aktuelle Entwicklung am besten erkennbar ist, wie Cosandey erklärt. Demnach kommen 92 Prozent ohne zusätzliche Staatshilfe über die Runden. 8 Prozent hingegen benötigen unmittelbar nach der Pensionierung schon Ergänzungsleistungen (EL) – wobei drei Viertel von ihnen schon vor der Pensionierung von staatlichen Zusatzleistungen abhängig waren, etwa von der Invalidenversicherung oder der Sozialhilfe. Für Cosandey und seine Studien-Co-Autoren ist klar: «Armut lässt ich am besten vor dem Eintritt ins Rentenalter bekämpfen.»
Die Lösung der Ökonomen führt über den Arbeitsmarkt: Wer mehr arbeitet, hat mehr Lohn und folglich mehr Vorsorgegelder – und letztlich mehr Rente. In der Realität freilich ist das nicht immer so einfach.
Zusätzlich machen Cosandey und seine Mitstreiter Reformvorschläge für die Altersvorsorge, die letztlich zwei Ziele verfolgen: Erstens soll der Zugang für die Menschen zu mehr Alterskapital vereinfacht werden. Sprich, sie sollen mehr in die zweite und dritte Säule einzahlen dürfen als heute, um dann im Pensionsalter mehr Spargelder zu haben. Avenir Suisse schlägt deshalb vor, dass der Koordinationsabzug bei der zweiten Säule gesenkt wird, sodass Personen mit Teilzeitpensen eine bessere berufliche Vorsorge aufbauen können.
Die Senkung des Koordinationsabzugs, der im laufenden Jahr 25'725 Franken beträgt, war Teil der Reform der zweiten Säule, die im September krachend an der Urne gescheitert ist. Eine Neuauflage erachtet Cosandey politisch nicht als realistisch. Er appelliert viel mehr an die Pensionskassen, diese Reform freiwillig voranzutreiben – vielleicht nicht auf einmal, sondern schrittweise. «Die grosse Mehrheit der Pensionskassen hat den Koordinationsabzug freiwillig gesenkt und verhilft so ihren Versicherten zu mehr Rente. Nur rund 10 Prozent der Pensionskassen profitieren heute noch nicht von grosszügigeren Lösungen.»
Eine zweite Möglichkeit, mehr Alterskapital anzuhäufen, erkennt Avenir Suisse in der Lockerung der Spielregeln bei der dritten Säule. Die dritte Säule sei nicht nur etwas für die Reichen, wie fälschlicherweise oft behauptet werde, sagt Cosandey. «Denn die tiefen Einkommen von heute sind nicht die tiefen Einkommen von morgen.» Menschen gründen Familien, nehmen sich eine Auszeit, machen eine zweite oder dritte Ausbildung – und können dann in diesen Jahren vielleicht nicht einzahlen. Deshalb sollte die Möglichkeit geschaffen werden, nachträglich Beitragslücken zu schliessen – wie das auch in der zweiten Säule erlaubt sei. Das ist ein Vorschlag, der auch im Parlament gut ankommt. Dieses hat eine entsprechende Motion von Mitte-Ständerat Erich Ettlin gegen den Willen des Bundesrats angenommen.
Politisch im Gespräch ist die dritte Säule aber derzeit wegen einer ganz anderen Frage: Gemäss Sparpaket des Bundesrates sollen die steuerlichen Vorteile beim Bezug von Kapital aus der zweiten und dritten Säule beseitigt werden. Davon verspricht sich der Bund Mehreinnahmen. Die bürgerlichen Parteien zeigen sich empört. Aber auch Finanzministerin Karin Keller-Sutter macht im Interview mit der «Schweiz am Wochenende» mehr als deutlich, dass das nicht ihr Vorschlag war. Ob und wie der Bundesrat diesen weiterverfolgen werde, entscheide er im Januar. «Es ist etwa auch denkbar, dass auf Änderungen bei der dritten Säule verzichtet wird», sagt Keller-Sutter.
Aus ökonomischer Sicht sei es richtig, allfällige Vorteile beim Kapitalbezug zu eliminieren, sagt Cosandey. «Ob Kapitalbezug oder Rente, der Staat sollte sich hier steuerneutral verhalten.» Gleichzeitig sieht der Avenir-Suisse-Mann ein grosses Problem beim derzeit heiss diskutierten Vorschlag: Das in die zweite oder dritte Säule einbezahlte Geld sei dort «blockiert», die Versicherten können ihre Entscheide nicht mehr revidieren. «Die Spielregeln jetzt zu ändern, ist gegen das Prinzip von Treu und Glauben.» Das könne man nur mit einer sehr langen Übergangsfrist machen.
Den zweiten Reformbedarf sieht Cosandey beim Einbezug der Gesundheitsvorsorge in eine umfassende Altersvorsorge. Auch hier sollen wieder die beiden unterschiedlichen Finanzierungsprinzipien zum Zuge kommen. Die Kosten für den Gang zum Arzt, Apotheker oder ins Spital sollen wie heute von den Krankenkassen und den Kantonen in einem Umlageverfahren analog der AHV gedeckt werden. Das heisst: Die Prämienzahler begleichen solidarisch die Arztrechnungen für alle. Das wäre dann im Avenir-Suisse-Modell die vierte Säule.
Die fünfte Säule sollte dann die Kosten für die Langzeitpflege übernehmen, die heute in einem komplizierten Abrechnungsverfahren von den Krankenkassen, den Kantonen und mit Geldern aus dem Ergänzungsleistungstopf abgegolten wird. Stimmt die Bevölkerung am 24. November der einheitlichen Finanzierung von ambulant und stationär zu, dann dürfte sich dies etwas verbessern. Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung möchte Avenir Suisse die Langzeitpflege separat finanzieren und schlägt dafür eine Art Kapitaldeckungsverfahren vor wie bei der beruflichen Vorsorge. Sonst bestehe die Gefahr, dass sich die finanziellen Lasten zu stark auf die Schultern der erwerbstätigen Bevölkerung verschieben würden.
Konkret schlägt die Denkfabrik die Schaffung eines obligatorischen Pflegekapitals vor. Bei diesem Modell zahlen die Versicherten ab einem bestimmten Alter eine Kopfprämie auf ein Sperrkonto ein. Das so angesparte Geld wird nur dann verwendet, wenn ein Bedarf an Langzeitpflege besteht und kann sonst auch an die nächste Generation – zum Beispiel als Pflegekapital – vererbt werden. (aargauerzeitung.ch)
Es wird der Moment kommen, da arbeitet der Bürger nur noch um alle Verpflichtungen (Steuer, KK, usw.) erfüllen zu können.
Wer ist bereit dazu? Ich garantiert nicht!