Anfang der neunziger Jahre besuchte ich das Basler Bäumlihof-Schulhaus. Das Migrantenmädchen Sibel aus der Türkei war in meiner Parallelklasse. Es war die Zeit des rasanten Aufstiegs der Schweizerischen Volkspartei.
Im weltgeschichtlichen Vakuum zwischen Mauerfall und Finanzkrise geriet die Gewissheit vieler um ihren Platz in der Welt ins Wanken. Das Bildungssystem wurde durchlässiger, die soziale Mobilität grösser, grosse Einwanderergruppen aus der Türkei, Ex-Jugoslawien und Deutschland integriert. Die Städte, die von der globalisierten Dienstleistungs- und Finanz-Hausse profitierten, wuchsen zu teuren, verkehrsberuhigten, links-grün dominierten Profitmaschinen heran. Und gaben den Landkantonen in mehr als einer Abstimmung auf den Deckel.
Die SVP dagegen band in der ruralen Schweiz all jene Mittelständler in ihre Bewegung ein, die stets unter der diffusen Angst litten, sie könnten um ihren sozialen Status oder ihre Pfründe gebracht werden.
«Solange ich ‹Neger› sage, bleibt die Kamera bei mir», sagte Ueli Maurer einmal in dieser Hochzeit des schweizerischen Rechtspopulismus. Er sagte «Kamera», meinte aber das generelle Diskursprimat.
Dank permanentem Plakat-Wahlkampf, Tabubruch und Buure-Zmorge gewann und hielt die SVP die Lufthoheit nicht nur über die Stammtische, sondern auch über die Redaktionen und damit die Debatte in der Öffentlichkeits-Arena. Die bürgerliche Restschweiz zeterte zuerst, dann biederte sie sich an. Irgendwann war sie auf die Volkspartei angewiesen, wenn sie ihre Geschäfte durchbringen wollte.
Wer dagegen halten wollte, musste seine Kräfte bündeln und mindestens so populistisch agieren. Die Juso um das künftige SP-Präsidium haben das konsequent gemacht, die SP hat alles links von ihr aufgesogen und sich mit den Grünen arrangiert. Die Polarisierung der Politlandschaft in Rot-Grün und Bürgerlich mit Pendel-Mitte war perfekt.
Nach den Verstimmungen im Nachgang zur Einführung der vollen Personenfreizügigkeit und schrillen Abstimmungskämpfen um Einwanderungs- und SRG-Fragen gelang es 2015 dem bürgerlichen Pol, eine komfortable Mehrheit zu erringen. Damit ist auf absehbare Zeit wohl genauso Schluss wie mit Wahlkampf nach althergebrachten Methoden.
2015 kam auch meine ehemalige Mitschülerin Sibel Arslan in den Nationalrat. Ihre Wahl war ein Fanal für eine Entwicklung, die sich seither noch akzentuiert hat. Die seit den 90ern im rotgrün dominierten Basel eingebürgerte kurdische Diaspora hatte Arslan nach Bern durchgedrückt. Mit geschickter Social-Media-Mobilisierung als Antwort auf eine scharfe Verhinderungskampagne durch Christoph Blochers «Basler Zeitung».
Zu sagen, dieser Wahlausgang sei damals überraschend gewesen, wäre eine krasse Untertreibung. Im Nachhinein betrachtet spielte sich dort aber nur im Kleinen ab, was sich nun auf nationaler Ebene wiederholt.
Linke, linksliberale und weiblich geprägte nicht-institutionelle Interessengruppen, die mit digitalen Mitteln und via Social Media mobilisieren und dirigieren, treten auf nationaler Ebene gegen die etablierten Parteien und Institutionen an. Die digitale Vernetzung entfaltet mittlerweile eine so grosse propagandistische Schlagkraft, dass sie derjenigen der etablierten Akteure mit ihren Millionen-Budgets und klassischen Kampagnenführungen ebenbürtig ist. Mindestens.
2016 hat eine Gruppe von freiwilligen Fronarbeiterinnen und -arbeitern um Flavia Kleiner gegen die Durchsetzungs-Initiative der SVP mobilisiert. Und gewonnen. Die Operation Libero war auch in den Abstimmungskämpfen um die Asylreform und die erleichterte Einbürgerung aktiv und siegreich.
Das Impact-Wachstum politischer Ad-hoc-Kräfte von ausserhalb der institutionellen Politik – von dieser gerne einfach als «Zivilgesellschaft» bezeichnet – , ist in den vergangenen drei Jahren noch zusätzlich befeuert worden.
Nach einer Story in der «New York Times» über Harvey Weinsteins Verbrechen hat sich unter dem Hashtag #metoo eine neue digitale Frauenbewegung formiert, die via Social Media den Feminismus-Diskurs auch in den klassischen Medien nachhaltig prägt und politisch zu mobilisieren vermag. In der Folge gingen alleine in der Schweiz eine halbe Million Frauen auf die Strasse, um gegen behauptete und tatsächliche Benachteiligungen zu protestieren.
Gleichzeitig stellte sich in Schweden erstmals an einem Freitag ein Mädchen vor das Parlamentsgebäude und hielt ein Schild mit der Aufschrift «Skolstrejk för Klimatet» in die Höhe. Die «Fridays for Future» haben sich inzwischen zu einer weltweiten Bewegung ausgewachsen, die durch erfolgreiche Massenmobilisierung direkt Einfluss auf die Politik nimmt. Weltweit, aber auch in der Schweiz.
Die Wahlen 2019 waren der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. Sie mündeten in einen eigentlichen Grün-Rutsch und machten das Parlament jünger und weiblicher. Der vergangene Sonntag mit dem Durchmarsch links-urban-grüner Vorlagen und dem Fast-Absturz der Kampfjets war die logische Fortsetzung dieser Entwicklung.
Anders als die Basis der SVP der Neunziger- und Nuller-Jahre sind die neuen Protestbewegungen der Klimajugend und der Frauen indes nicht vom diffusen Gefühl angetrieben, möglicherweise beschissen zu werden. Sie sind vielmehr überzeugt davon, schon lange über den Tisch gezogen worden zu sein. Die Frauen von den Männern, die ihnen die Chefposten und -gehälter vorenthalten und die Jungen von den Alten, die ihnen eine geschrottete Erde und leere Pensionskassen hinterlassen.
Die Wut darüber und die kontinuierlichen Versicherungen in den zur Vernetzung und Mobilisierung geschaffenen Echokammern, dass das auch wirklich so ist, werden nachhaltig unglaublich viel politische Energie freisetzen.
Ein Aargauer Nationalrat der SVP ist vergangene Woche ziemlich ausgerastet. Er hat meine ehemalige Mitschülerin Sibel vor laufenden Kameras als «Frau Arschlan» beschimpft: Eine junge, urbane, migrantische Frau der Grünen. Weil die Klima-Jugend den Bundesplatz besetzt hielt, was die rotgrüne Berner Stadtregierung geduldet hatte.
Wen wundert's?
Seine Wort- & Bildwahl schon damals unterstes Niveau. Niemand begehrt auf (weil: die SVP braucht man ja).
Nun ist eine Generation "erwachsen" geworden, welche bestehende (reale und gefühlte) Ungerechtigkeit ablehnt. Glarner wird brutal zurückgebunden, sogar von denen, die ihm einst applaudieren. Seine Felle schwimmen davon.
Resultat: Glarner fühlt sich um seine Pfründe betrogen. Entsprechend radikalisiert er sich.
Die neue Generation kommuniziert via andere Kanäle und beherrschst die Klaviatur besser.