Schweiz
Analyse

Bundesratswahl: Warum das System überholt werden muss

Die Bundesraetinnen Elisabeth Baume-Schneider, Viola Amherd, Karin Keller-Sutter, die Bundesraete Albert Roesti und Guy Parmelin, Bundespraesident Alain Berset, und Vizekanzler Viktor Rossi, von links ...
Der Bundesrat auf seiner diesjährigen «Schulreise» in Murten (FR).Bild: keystone
Analyse

Das System Bundesrat hat ausgedient – doch niemand will darüber reden

Rund um die Bundesratswahl gibt es viel Getratsche und Geraune. Die zentrale Frage aber wird umschifft: Ist unser weltweit einzigartiges Regierungssystem noch zeitgemäss?
30.11.2023, 05:12
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Die Schweiz ist keine Monarchie. Sie war nie eine, zumindest keine «richtige». Wir haben auch kaum Stars, die diese Bezeichnung verdienen (Roger Federer ist im Ruhestand). Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der Köpfe oft wichtiger sind als Inhalte. Also machen wir ein Tamtam um Halb- und Cervelatpromis. Und um Bundesratswahlen.

Das ist dieses Jahr nicht anders. Wer schafft es aufs Ticket bei der Ersatzwahl für den Sitz von SP-Bundesrat Alain Berset? Muss FDP-Aussenminister Ignazio Cassis zittern, weil die Grünen ihn angreifen wollen und die Mitte hinter den Kulissen mit den Hufen scharrt? Es erstaunt nicht, dass schon wilde Komplott-Theorien herumgereicht werden.

Überraschungen lassen sich nicht ausschliessen. Doch die wahrscheinlichste Variante bleibt, dass Cassis (mit einem Denkzettel) wiedergewählt und der neue SP-Bundesrat Beat Jans oder Jon Pult heissen wird. Denn unser Regierungssystem ist auf Stabilität ausgelegt. Das ist beruhigend, doch Stabilität bedeutet immer öfter Stillstand.

Grösste Partei legt sich quer

Vor 175 Jahren wurde der erste Bundesrat gewählt. Seither gab es Anpassungen bei der Zusammensetzung und der Aufgabenteilung, doch im Grundsatz hat sich das System seit Gründung des Bundesstaats nicht verändert. Die Welt aber hat sich stark gewandelt, sie ist komplexer geworden. Die Frage drängt sich auf: Ist unser System noch zeitgemäss?

Das Siebnergremium ohne klaren Chef oder Chefin ist darauf ausgerichtet, alle relevanten Kräfte im Sinne der Konkordanz einzubinden, basierend auf der «Zauberformel». Doch ausgerechnet die grösste Regierungspartei strapaziert den Konsens, indem sie sich selbst bei Fragen von nationalem Interesse wie der Europapolitik konsequent querlegt.

Gefragt ist linientreue

Die Mischform aus Regierung und Opposition, die auch von der SP praktiziert wird, belastet die Zusammenarbeit im Bundesrat. Gleichzeitig sind Veränderungen schwierig, denn seit den Abwahlen von Ruth Metzler und Christoph Blocher (und der nur ganz knappen Wahl von Ueli Maurer) halten sich die Parteien an einen ungeschriebenen «Waffenstillstand».

Ein Stich des Bundesrats im Jahr 1848, mit Ulrich Ochsenbein, Jonas Furrer, Daniel-Henri Druey (hintere Reihe v.l.n.r), Friedrich Frei-Herose, Wilhelm Matthias Naeff, Stefano Franscini und Martin Muen ...
Der erste Bundesrat von 1848. Einiges hat sich seitdem geändert, aber im Grundsatz gilt das System bis heute.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Gewählt werden nur noch Kandidierende, die von den Parteien offiziell nominiert wurden. Das limitiert die Auswahl. «Gefragt sind nicht Figuren, die sich für die Staatsleitung eignen, sondern solche, die auf Linie politisieren», beklagte sich die NZZ. Dies führe wiederum dazu, dass am Ende oft nicht die Besten gewählt würden, sondern die Harmlosesten.

Fatale Abhängigkeiten

Als Beispiele erwähnte die NZZ Elisabeth Baume-Schneider (gegen die kantige Eva Herzog) oder Guy Parmelin (gegen Thomas Aeschi und Norman Gobbi). Das eigentliche Problem aber ist ein anderes: In einem System, in dem jedes Regierungsmitglied einzeln gewählt wird, entstehen Abhängigkeiten, die sich auf die Zusammenarbeit im Gremium auswirken.

Das hat sich gerade in den letzten, von Krisen geprägten Jahren sehr deutlich gezeigt:

Indiskretionen

Während der Corona-Pandemie wurden regelmässig Bundesratsinterna an die Medien geleakt. Als «Hauptschuldiger» gilt Gesundheitsminister Alain Berset, doch auch aus bürgerlich geführten Departementen gab es Indiskretionen. Sie waren Teil des Gerangels zwischen den Befürwortern einer vorsichtigen und einer «lockeren» Coronapolitik.

Die Geschäftsprüfungskommissionen von National- und Ständerat haben die Vorgänge untersucht und kamen in ihrem Bericht zu einem ernüchternden Befund. Die Indiskretionen hätten «zu einem grossen Vertrauensverlust innerhalb des Bundesrates geführt». Dies führte zu teilweise fragwürdigen Entscheiden, etwa während der zweiten Corona-Welle.

Überforderung

Alain Berset, President of the Swiss Confederation, center, listens to Andriy Kostin, General Prosecutor, right, next to Ruslan Kravchenko, Mayor of Bucha, left, during a conversation on prosecution o ...
Letzte Woche besuchte Alain Berset die Ukraine, doch mit einer kohärenten Politik tut sich der Bundesrat schwer.Bild: keystone

Die Schweizer Nabelschau-Mentalität macht vor dem Bundesrat nicht halt. So hielt er es bis zuletzt für undenkbar, dass Wladimir Putin die Ukraine überfallen würde. Als es geschah, wirkte der Bundesrat kopflos und überfordert. Gleichzeitig klammerte er sich an die strikte Auslegung der Neutralität. Seither steht die Schweiz unter verschärfter Beobachtung.

Überfordert und führungsschwach wirkte der Bundesrat auch, als der das ausgehandelte Rahmenabkommen mit der EU einseitig «versenkte». Dabei fehlte es nicht an warnenden Stimmen, dass ein Neustart schwierig werde und die Schweiz kaum auf einen besseren Deal hoffen könne. Denn die EU opfert ihre Prinzipien nicht für einen Drittstaat.

Unser auf grösstmögliche Stabilität ausgerichtetes Regierungssystem scheint nur bedingt krisentauglich zu sein. Das gilt erst recht, wenn die beteiligten Parteien nicht am gleichen Strick ziehen und ihre Eigeninteressen höher gewichten als jene des Landes. Und wenn die Zauberformel ihre Magie einbüsst und die Zusammensetzung infrage gestellt wird.

Fragwürdiger Kuhhandel

Der Bundesratshistoriker Urs Altermatt schlug im Interview mit CH Media deshalb eine Rotationsformel vor, bei der FDP und Mitte im Fall eines Rücktritts abwechselnd den Sitz der anderen Partei erhalten. Von den Angesprochenen wird sie als «nicht praktikabel» (FDP-Präsident Thierry Burkart) und «unrealistisch» (Mitte-Chef Gerhard Pfister) bezeichnet.

Es ist tatsächlich schwer vorstellbar, wie ein solcher Kuhhandel in der Praxis funktionieren soll. Alle vier Jahre nach den nationalen Wahlen wären Reibereien programmiert, und der Anspruch der Grünen (und Grünliberalen) bleibt ungeklärt. Deshalb wäre eine Überholung des bestehenden Systems angezeigt. Zwei Reformansätze sind denkbar:

Koalition

Aufdrängen würde sich ein Wechsel zu einem System mit Regierung und Opposition, wie es im Ausland die Regel ist. Mal wäre Mitte-links an der Macht, dann wieder Mitte-rechts. Eine solche Regierungsform passe nicht zu unserer halbdirekten Konkordanz-Demokratie, wird oft behauptet. Doch wenn man es nicht versucht, wird man es auch nie erfahren.

Präsidium

Die andere, von mir mehrfach thematisierte Möglichkeit ist die Beibehaltung der heutigen Regierungsform (allenfalls aufgestockt um zwei Sitze), jedoch mit einem festen statt einem jährlich rotierenden Präsidium. Es würde den Auftritt der Schweiz gegen aussen stärken und kann dazu beitragen, die strategischen Defizite einzudämmen.

Diese Vorschläge sind keine Revolution. Eine ernsthafte Debatte darüber aber findet allenfalls in der Politikwissenschaft und unter Historikern statt. In der Politik ist die Resistenz gegen Reformen gross, nicht zuletzt im Bundesrat selbst. Und es fehlt wohl der Leidensdruck, weshalb ein Systemwechsel auch beim «Volk» einen schweren Stand hätte.

Selbst in den Medien beschäftigt man sich nur damit, ob Beat Jans oder Jon Pult grössere Chancen hat, wie viele «wilde» Stimmen Daniel Jositsch machen wird und wie eine Mehrheit für die Abwahl (oder Nichtwiederwahl) von Ignazio Cassis zusammengekratzt werden könnte. Es ist halt leichter «verkäuflich» als eine trockene Reformdebatte.

«Unsere Konkordanz-Regierung, in der alle grossen Parteien vertreten sind, hat ihre Vorzüge, aber sie ist tendenziell ein Schönwetter-System», schrieb ich im letzten Jahr. Die schönen Zeiten dürften auf absehbare Zeit vorbei sein, das System Bundesrat hat in seiner heutigen Form ausgedient. Jetzt müsste sich diese Erkenntnis einfach noch durchsetzen.

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Schlechte Noten für den Bundesrat – gleich vier ungenügend
Nur noch jeder zweite ist mit der Arbeit des Gesamtbundesrats laut einer neuen Umfrage zufrieden oder eher zufrieden. Ende 2021 lag dieser Wert noch 15 Prozentpunkte höher. Doch nicht nur das Gesamtgremium, auch die einzelnen Bundesräte büssten seit Dezember 2021 an Beliebtheit ein, wie aus einer am 29. August 2022 publizierten Umfrage von Tamedia und «20 Minuten» hervorgeht.

quelle: stefano spinelli
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Kommt es zur grossen Ämtli-Rochade? Wir erklären es dir mit unseren Bundesrats-Figürchen
Video: watson
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336 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Vada- gua
30.11.2023 05:38registriert April 2017
Vielleicht ist genau die „langweilige „ Zauberformel doch die richtige Regierungsformel. So haben wir keine Politkönige, die sich profilieren können. Miteinander statt übereinander reden, ist doch die beste Zauberformel.
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Tubel vom Dienst
30.11.2023 05:50registriert Januar 2021
Never Change a running system. Die Schweiz ist wirtschaftlich und gesellschaftlich gesehen, eines der erfolgreichsten Länder. Wenn bei uns etwas bemängelt wird, ist das jammern auf hohem Niveau. Wir haben ein ausgezeichnetes Bildungssystem, ein funktionierendes Gesundheitssystem und gute Sozialversicherungen. Natürlich gibt es immer etwas zu bemängeln, niemand ist perfekt. Aber wie schon gesagt, hier wird auf hohem Niveau gejammert.
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Purscht
30.11.2023 05:48registriert Oktober 2017
Seien wir froh dass unser System auf Stabilität ausgerichtet ist. Die Schweiz findet schon ihren Weg.
Alle Systeme, alle Menschen haben Problem mit der hektischen Gegenwart.
Besser man findet Instrumente zwischen Bundesrat, Nationalrat und Ständerat um schneller zu reagieren, ohne jedes mal direkt zu Notrecht greiffen zu müssen.
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