Seit fünf Monaten ist Ignazio Cassis im Amt. Diese Woche hat der neue Aussenminister erstmals eine Reise ausserhalb Europas unternommen. Die erste Destination hiess China. Wer die Reisetätigkeit der Landesregierung in den letzten Jahren mitverfolgt hat, wundert sich darüber nicht im geringsten. Bundesräte begeben sich so oft und gerne ins «Wirtschaftswunderland».
Es begann mit der Reise von Willi Ritschard auf dem ersten Swissair-Linienflug nach Peking 1975 und erreichte 2013 einen denkwürdigen Höhepunkt, als fünf der sieben Bundesräte innerhalb von weniger als sechs Monaten nach China pilgerten. Nur Simonetta Sommaruga und Eveline Widmer-Schlumpf blieben zu Hause. Unsere Nachbarländer werden im Vergleich geradezu vernachlässigt.
Cassis hat sich in diesen Reigen eingereiht. Das Aussendepartement EDA betonte in einer Mitteilung, der Bundesrat habe mit seinem Amtskollegen Wang Yi den «ersten strategischen Dialog in der Geschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und China» geführt.
Gesprochen wurde über verschiedene Themen: Die Korea-Krise, den Freihandel, die Schaffung einer «hochwertigen strategischen Plattform für Innovation», die chinesische Belt-and-Road-Initiative für eine Neubelebung der alten Seidenstrasse und angeblich auch über Menschenrechte, wie Cassis an einer Medienkonferenz beiläufig sagte.
China ist als bald einmal grösste Volkswirtschaft der Welt zweifellos wichtig. Und die Schweiz geniesst in Peking einen gewissen Bonus, weil sie 1950 als eines der ersten Länder die neue Volksrepublik diplomatisch anerkannt hat. Dennoch irritiert die rege Reisetätigkeit des Bundesrats, denn China ist in mancher Hinsicht auch ein höchst problematisches Land.
So gibt es mehrere Bereiche, bei denen es wünschenswert wäre, wenn der Bundesrat sie bei seinen Treffen mit den Chinesen ansprechen würde:
Im Kalten Krieg war das Verhältnis der beiden Länder schwierig. Die Schweiz profilierte sich durch die grosszügige Aufnahme von tibetischen Flüchtlingen nach der Niederschlagung des Aufstands von 1959, im Sinne einer Solidarität von «Bergvolk zu Bergvolk». Heute leben rund 7500 Menschen tibetischer Abstammung in der Schweiz, es ist die grösste Exilgemeinde in Europa.
Deren Lage habe sich seit Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit China 2014 verschlechtert, klagten Tibeter im März an einer Medienkonferenz der Gesellschaft für bedrohte Völker. So verlange die Schweiz seit 2015 von Tibetern mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung, dass sie «China» als Herkunftsland angeben. Eine Bestätigung durch die chinesische Botschaft werde häufig verweigert, weshalb sie faktisch die Schweiz nicht verlassen könnten.
Eingebürgerte Tibeter wiederum hätten zunehmend Hemmungen, China zu kritisieren oder an Demonstrationen teilzunehmen. Sie müssten befürchten, kein Visum mehr für Besuche in der ehemaligen Heimat zu bekommen. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) räumte gegenüber der «NZZ am Sonntag» ein, dass China in der Schweiz zunehmend selbstbewusst und fordernd auftrete «unter anderem in Bezug auf die tibetische Exilgemeinschaft».
Der Bundesrat stellte im letzten Dezember in seiner Antwort auf eine Anfrage des Zürcher SP-Nationalrats Angelo Barrile «eine Verschlechterung der Menschenrechtslage in China, inklusive der tibetischen Gebiete, im Vergleich zu 2013» fest. Hat Ignazio Cassis die Tibeter-Problematik in Peking angesprochen? Der Aussenminister habe «die Achtung der Minderheiten als einen grundlegenden Wert der Schweiz» bezeichnet, heisst in der EDA-Mitteilung.
China zensuriert das Internet so scharf wie kein Land ausser Nordkorea. Nun will es die letzten Lücken in der «Great Firewall» schliessen: Seit 1. April ist die Nutzung von Virtual Private Networks (VPN) grundsätzlich verboten. Nur noch staatlich lizenzierte Software darf verwendet werden. Das ist ein Problem für ausländische Firmen, die bislang auf VPN-Tunnel angewiesen waren.
IT-Experten fürchten, dass die Chinesen auf diesem Weg sensible Daten ausspionieren können. In Ländern wie Deutschland macht man sich grosse Sorgen, denn das neue Gesetz betrifft fast alle Unternehmen, die mit oder in China Geschäfte machen. In der Schweiz hingegen wird dieses Problem kaum thematisiert, weder von den Medien noch von den Wirtschaftsverbänden.
Bislang galt in den westlichen Ländern die Devise, dass im Geschäft mit China der Zweck alle Mittel heiligt. Das beginnt sich zu ändern. Der Handelskrieg, mit dem US-Präsident Donald Trump droht, ist dabei nur ein Aspekt. Für zunehmenden Unmut sorgt die Tatsache, dass die Chinesen immer häufiger westliche Firmen aufkaufen, den eigenen Markt aber weitgehend abschotten.
In Deutschland findet dazu seit der Übernahme des Roboterherstellers Kuka eine grosse Debatte statt. Auch die Schweiz ist betroffen, hier wurden unter anderem der Agrochemiekonzern Syngenta und die Airline-Zulieferer Swissport und Gategroup übernommen. An Nebengeräuschen fehlt es in diesen Fällen nicht, doch der Bundesrat praktiziert eine Vogel-Strauss-Politik.
In solchen Fällen stellt sich die Frage, welche Strategie die Schweiz im Umgang mit China verfolgt. Gar keine, meint Ruedi Nützi, Direktor der Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz, in einem Beitrag in der NZZ. «Eine notwendige breite Debatte über die Frage, was die Schweiz in und mit China will, fand bisher nicht statt», meint der erfahrene China-Kenner.
«Statt uns halbherzig und unkoordiniert mit China auseinanderzusetzen, müssen wir hinschauen, aufwachen und handeln», fordert Nützi. Es liest sich wie ein vernichtendes Fazit der Reisetätigkeit des Bundesrats. Auch wenn teilweise wichtige Abkommen unterzeichnet wurden, ging es letztlich nur darum, sich bei den Wirtschaftswunderknaben einzuschmeicheln. Ob der von Ignazio Cassis geführt «erste strategische Dialog» daran etwas ändern wird?