Schweiz
Analyse

AHV-Rechenfehler bringt Bürgerliche in die Defensive

Ein Wahlplakat zur AHV-Initiative steht bei einer Strasse, am Samstag, 20. August 2022, in Muensingen. Am 25. September werden ueber die Vorlagen zur AHV-Revision, Massentierhaltung und Verrechnungsst ...
Die AHV 21 wurde trotz Warnung der Gegner mit 50,6 Prozent Ja knapp angenommen.Bild: KEYSTONE
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Ein höheres Rentenalter wird (noch) unrealistischer

Der AHV geht es finanziell deutlich besser als angenommen. Das freut die Linke. Sie erhält zusätzliche Munition für den Kampf gegen ein höheres Rentenalter – und die BVG-Reform.
06.08.2024, 14:3406.08.2024, 15:04
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Eigentlich ist es eine gute Nachricht: Die AHV steht finanziell besser da als bislang vermutet. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat fehlerhafte Formeln in seiner Software entdeckt, die sich quasi gegenseitig hochschaukelten. Deshalb wurden die Ausgaben bis 2033 zu hoch eingeschätzt. Das BSV hat sich um bis zu vier Milliarden Franken «verrechnet».

Der Berechnungsfehler werde sich erst ab 2027 signifikant auswirken, betonte BSV-Direktor Stéphane Rossini am Dienstag. Der politische Streit aber begann schon während der Medienkonferenz. Nur wenige Minuten nach ihrem Beginn forderte die SP die Bürgerlichen in einer Mitteilung auf, «ihre Abbaupläne bei den Renten endlich zu stoppen».

Stephane Rossini, Direktor Bundesamt fuer Sozialversicherungen BSV, rechts, diskutiert mit Bruno Parnisari, Stv. Direktor BSV, Leiter des Geschaeftsfeldes "Mathematik, Analysen und Statistik&quot ...
BSV-Direktor Stéphane Rossini (r.) und sein zuständiger Stellvertreter Bruno Parnisari haben sich verrechnet.Bild: keystone

Die FDP auf der Gegenseite konstatierte ein «Chaos» im Innendepartement und nahm die zuständige SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (und ihren Vorgänger Alain Berset) ins Visier. Die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) von National- und Ständerat sollten diese «für die AHV präzedenzlose Fehlleistung» sofort untersuchen, fordert die FDP.

Seit Jahren Streit um AHV

Der Schlagabtausch war absehbar. Um die erste Säule der Altersvorsorge tobt seit Jahren ein politischer Streit. Die Linke will sie stärken und konnte dabei mit dem Ja zur 13. AHV-Rente im März einen epochalen Triumph feiern. Die Bürgerlichen wiederum warnen wegen der Demografie vor Finanzlücken und fordern deshalb ein höheres Rentenalter.

Im September 2022 errangen sie mit dem hauchdünnen Ja zur AHV 21, mit der das Frauenrentenalter 65 eingeführt wurde, ihrerseits einen Erfolg. Nun fordern die SP Frauen aufgrund des Prognosefehlers eine Wiederholung der Volksabstimmung. «Die AHV hat kein Finanzierungsproblem!», heisst es kategorisch in einer Medienmitteilung.

AHV rutscht ins Minus

Es ist eine gewagte Behauptung, denn mit der ab 2026 ausbezahlten «Bonus-Rente» rutscht die AHV-Rechnung ins Minus, Softwarefehler hin oder her. «Es braucht eine Zusatzfinanzierung», sagte BSV-Chef Rossini, ein ehemaliger Walliser SP-Nationalrat. Über eine mögliche Wiederholung der Abstimmung über die AHV 21 wollte er nicht spekulieren.

Einen solchen Präzedenzfall gibt es: 2019 ordnete das Bundesgericht erstmals die Wiederholung einer Volksabstimmung an. Drei Jahre zuvor war die Volksinitiative der damaligen CVP zur Heiratsstrafe knapp gescheitert. Dann zeigte sich, dass der Bund die Zahl der betroffenen Ehepaare in den Abstimmungsunterlagen viel zu tief angegeben hatte.

Zusatzfinanzierung hat es schwer

Zur Wiederholung kam es nicht, weil die CVP ihre Initiative zurückzog. Im konkreten Fall dürfte es die Forderung der SP Frauen schwer haben, auch weil die AHV 21 bereits in Kraft gesetzt wurde. Schwierig wird es auch für die von Baume-Schneider beantragte Finanzierungsvorlage für die 13. Rente via Lohnabzüge und Mehrwertsteuer.

SVP und FDP lehnen sie ab. Sie wollen die Finanzierung in der nächsten AHV-Reform regeln, die der Bundesrat aufgrund eines Parlamentsentscheids bis 2026 vorlegen muss. Die bessere Finanzlage der AHV verleiht ihnen Rückenwind. Baume-Schneiders Zusatzfinanzierung wird besonders im Ständerat auf erheblichen Widerstand stossen.

Bürgerliche in der Defensive

Faktisch aber sind die Bürgerlichen in der Defensive. Geht es der AHV besser als erwartet, nimmt der Leidensdruck ab. Das wird sich auf die Diskussion über ein höheres Rentenalter auswirken. Die Bürgerlichen werden sich gut überlegen, wie weit sie gehen wollen. Denn schon das Frauenrentenalter 65 wurde wie erwähnt nur sehr knapp angenommen.

Das Stimmvolk reagiert empfindlich auf alles, was irgendwie nach «Rentenklau» aussieht. Deshalb dürfte sich der BSV-Flop auch auf die Abstimmung am 22. September über die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) auswirken. Die AHV-Rechnung spielt dabei keine Rolle, dennoch werden es die Befürworter der komplexen Vorlage noch schwerer haben.

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136 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Glücklich
06.08.2024 14:49registriert August 2022
‚Ein höheres Rentenalter wird (noch) unrealistischer‘

Noch? Das war schon vor der Fehlberechnung unrealistisch. Ich arbeite seit ich 15en bin ununterbrochen. Mit 65 Jahren werde ich also 50J. gearbeitet haben. Bereits jetzt mit 50ig, bemerke ich, dass die Leistungsfähigkeit abnimmt und ich länger habe, mich von einer strengen Arbeitswoche zu erholen.

Zudem finde ich, dass nach 50J. Arbeitsleben, man es sich auch verdient hat, in den Ruhestand zu gehen.

Auch wäre nur der Geringverdiener der Depp, der Gutverdiener hört eh schon mit 60ig auf zu Arbeiten.

Nein, für ein höheres Rentenalter!
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Overton Window
06.08.2024 15:19registriert August 2022
Ein höheres Rentenalter ist angesicht der bevorstehenden nächsten Automatisierungswelle mit KI sowieso absolut unrealistisch.

Bei gerechter Verteilung des Volksvermögens hätte die Arbeitswoche mittlerweile dank Automation sowieso nur noch 20-25 Stunden und das Rentenalter wäre bei 45-50. Aber 1% der Bevölkerung rafft sich mit Hilfe der Politik 90% für sich und schippert im Privatyacht herum, währenddem die Anderen sich überlegen, ob sie sie diesen Monat noch Benzin für den Arbeitsweg leisten können.
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Juana
06.08.2024 15:02registriert Mai 2024
Der Abbau darf nicht weitergehen. Die Angstmacherei der bürgerlichen wurde mit falschen Zahlen untermauert. Immer weniger für die Bevölkerung und mehr für die Wirtschaft ist Ausbeutung. Der Arbeitsfrieden der in der Schweiz beruht auf einer realistischen Balance.
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