Der «Showdown» ist vertagt. Weil das Jahrestreffen des World Economic Forum (WEF) in Davos der Omikron-Variante des Coronavirus zum Opfer fällt, kann auch die Begegnung von Aussenminister Ignazio Cassis mit dem für die Schweiz zuständigen EU-Kommissar Maros Sefcovic nicht stattfinden. Cassis dürfte darüber nicht unglücklich sein.
Ihre erste Begegnung Mitte November in Brüssel verlief gelinde gesagt holprig. Cassis und Sefcovic waren sich über das weitere Vorgehen überhaupt nicht einig. Während sich die Schweiz vorerst auf einen diffusen «politischen Dialog» mit der EU beschränken will, fordert die Brüsseler Kommission eine klar definierte «Roadmap».
Diese soll auch die institutionellen Fragen beinhalten. Cassis hätte sie nach dem Willen des slowakischen EU-Kommissars in Davos vorlegen sollen. Das bleibt ihm für den Moment erspart, doch die EU wird eher früher als später einen neuen Termin vorschlagen, denn auf ein esoterisches «Gschpürsch mi»-Seminar mit der Schweiz hat sie keine Lust.
Nach wie vor herrschen in Brüssel Ärger und Unverständnis über den Bundesrat, der im April die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen einseitig für beendet erklärt hatte. Man darf von einem Tiefpunkt dieses Jahres sprechen, denn damit hat er die Schweiz mutwillig in eine Sackgasse manövriert, ohne einen «Plan B» vorzulegen.
Das nützt die EU-Kommission weidlich aus. Sie hat so ziemlich alles blockiert, woran die Schweiz ein Interesse haben könnte, von den Bildungs- und Forschungsprogrammen Horizon Europe und Erasmus+ bis zur Aufdatierung von Marktzugangs-Abkommen. Derzeit ist die Medizinaltechnik betroffen, als nächstes vielleicht die Maschinenindustrie.
Eine Antwort darauf haben der Bundesrat und sein Aussenminister bis heute nicht gefunden. Ignazio Cassis hat in der Europafrage vor allem Allgemeinplätze und Ausflüchte zu bieten. Man wird den Verdacht nicht los, dem Tessiner sei in seinem anstehenden Präsidialjahr der Schweizer Sitz im UNO-Sicherheitsrat wichtiger als das ungeliebte EU-Dossier.
Dieses «Vakuum» wird durch gut gemeinte Vorschläge gefüllt, die primär eine Wunschliste an die EU sind. Was diese meint, ist zweitrangig. «Ich weiss nicht, ob es wahnsinnig geschickt ist, jetzt wieder mit Vorschlägen zu kommen, die der Partner als Rosinenpickerei betrachtet», meinte die Zürcher GLP-Nationalrätin Tiana Angelina Moser im watson-Interview.
Selbst SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi, der in der Europapolitik den Gegenpol zu den Grünliberalen bildet, war letzte Woche bei einem Gespräch mit Medienvertretern über diese «Einweg-Kommunikation» erstaunt. Für die SVP ist der Fall klar. Sie kann mit dem Status Quo (vorerst) leben. In einer heiklen Lage befindet sich hingegen vor allem die SP.
Sie hat sich von den Gewerkschaften ins Nein-Lager beim Rahmenabkommen (Stichwort Flankierende Massnahnmen) dirigieren lassen. Umfragen zeigen jedoch, dass wohl nur die GLP-Wählerschaft noch europafreundlicher ist als jene der Sozialdemokraten. Aus diesem Dilemma versucht sich die SP mit mehr oder weniger plausiblen Vorschlägen zu befreien.
Selbst der EU-Beitritt ist kein Tabu. Fraktionschef Roger Nordmann bezeichnete ihn im Interview mit watson als «die beste Option, davon bin ich überzeugt». Aus demokratischer Sicht sei es am besten, «Teil dieser Institutionen zu sein, um an Entscheidungen teilzuhaben, die uns letztendlich immer betreffen», meint Nordmann. So weit, so nachvollziehbar.
Ein EU-Beitritt aber ist auf absehbare Zeit illusorisch, nicht nur weil er in Umfragen unpopulär ist. Wie soll die Schweiz der EU beitreten, wenn sie sich schon damit schwer tut, neues EU-Recht in jenen Bereichen zu übernehmen, in denen sie als Nichtmitglied am Binnenmarkt teilnehmen will? Das betrifft nicht nur heikle Fragen wie den Lohnschutz.
Derzeit favorisieren viele in der Schweiz die Idee, die «dynamische» Rechtsübernahme innerhalb der bestehenden Abkommen zu regeln, ohne institutionellen Rahmen. Dabei schwingt unausgesprochen die Hoffnung mit, man könne das umstrittenste Abkommen, die Personenfreizügigkeit, ausklammern. Das aber werde «nicht funktionieren», meint die NZZ.
Was die Schweiz braucht, ist eine realistische Einschätzung ihrer Beziehung zum Nachbarn und wichtigsten Handelspartner. Helfen könnte ein Gastbeitrag von Jean-Daniel Gerber, dem früheren Staatssekretär für Wirtschaft, in der NZZ. Er befürchtet, dass die Schweiz in einen Drittlandstatus abrutscht, «vergleichbar mit jenem einiger osteuropäischer Nachbarländer».
Die Gefahr ist reell. Ein Schweizer EU-Korrespondent erzählte mir, dass er in Brüssel immer öfter vor verschlossener Türe stehe. Die Schweiz werde ähnlich wie die Ukraine behandelt. «Im Kontext der immer konkreter werdenden Aufteilung der Welt in drei Hegemoniezonen kann sich die Schweiz eine Abkapselung von Europa schlicht nicht leisten», meint Gerber.
Er fordert von der Schweiz ein «Bekenntnis zum Aufbau eines starken Europa». Damit könne sie der Vorstellung entgegentreten, die Schweiz versuche vom Binnenmarkt zu profitieren, wo es ihr nützt, und gleichzeitig «möglichst wenig dafür zu bezahlen und sich der einheitlichen Rechtsprechung zu entziehen». Es ist der klassische Rosinenpicker-Vorwurf.
Jean-Daniel Gerber spricht einen wichtigen Punkt an. Die Zeiten sind vorbei, in denen die EU die bilateralen Verträge als Vorstufe zum Beitritt der Schweiz betrachtete. Diese Illusion hat man in Brüssel längst aufgegeben. Umso mehr beharrt man auf einer institutionellen Regelung der Rechtsübernahme und auf regelmässigen Kohäsionszahlungen.
Das Argument, die Schweiz leiste auch viel für die EU mit Handelsbilanzüberschüssen, den Alpentransversalen oder der Beschäftigung von Grenzgängern, wischt Gerber mit einem schlagenden Argument vom Tisch: Die EU-Mitgliedsländer würden «ein Mehrfaches an Leistungen zum Aufbau Europas beitragen als die Schweiz».
Das Verhältnis auf «Augenhöhe», über das viele hierzulande schwadronieren, existiert in Tat und Wahrheit nicht. Die Schweiz wird als Nichtmitglied eine Bittstellerin bleiben. «Die Schweiz ist gut beraten, die Grössenverhältnisse realistisch einzuschätzen», kommentiert auch die NZZ. Es wäre zumindest ein Anfang, um einen realistischen Neustart zu wagen.
Der Bundesrat hat dazu einen Vorentscheid gefällt. Mario Gattiker, der auf Ende Jahr pensionierte Staatssekretär für Migration, soll laut Tamedia-Zeitungen ausloten, «welche Anpassungen des Schweizer Rechts an EU-Recht innenpolitisch mehrheitsfähig sein könnten». Ansonsten aber scheint die Diskussion innerhalb der Landesregierung nicht weit gediehen zu sein.
Ewig wird man die EU aber nicht hinhalten können. Für sie haben die Bilateralen in ihrer heutigen Form ohnehin ausgedient, wie GLP-Nationalrätin Tiana Moser festgestellt hat: «Den bisherigen Sonderweg gibt es nicht mehr. Wenn wir den bilateralen Weg wollen, müssen wir die institutionellen Fragen klären, oder wir streben irgendwann den EWR an.»
Der EU-Beitritt mag keine Option sein, doch es wäre eine bizarre Ironie, wenn die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 30 Jahre nach der Ablehnung durch das Stimmvolk am Ende die einzige für die Schweiz gangbare Lösung wäre. Wenn der Bundesrat weiter auf Zeit spielt, hat er womöglich irgendwann keine andere Wahl.
BG1984
ingmarbergman
Um es mit einer Analogie zu sagen: Der EWR ist ein Legacy-Produkt, das nur noch Patches erhält, aber nicht für Neukunden erhältlich ist.
Die Schweiz verhält sich wie jemand, der noch immer auf MS-DOS unterwegs ist, und jetzt wo Windows 11 der Standard ist, fragt man nach, ob man Windows 95 haben möchte.
Wäre schön wenn die Journalisten realistische Wege diskutieren und nicht hypothetische Ideen.
Sarkasmusdetektor