Nur selten sorgt die Schweiz international für Schlagzeilen. Am Dienstag war es wieder einmal so weit. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Klage der Klimaseniorinnen wurde von Leitmedien wie der «New York Times», der BBC, «Le Monde» oder dem «Spiegel» als Breaking News auf die Handys verschickt.
Es war in der Tat ein spektakulärer Entscheid, der europaweit Konsequenzen haben könnte. Das Strassburger Gericht hat entschieden, dass die Schweiz zu wenig tue, um ältere Menschen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Dabei sorgte er im Hitzesommer 2022 laut einer Studie der Universität Bern für 370 zusätzliche Todesfälle.
Die höchste Sterblichkeitsrate wiesen demnach ältere Frauen auf. Die Klage der Klimaseniorinnen, wenn auch «orchestriert» von Greenpeace, hatte somit Hand und Fuss. Deshalb hat die Grosse Kammer des EGMR sie fast einstimmig gutgeheissen. Direkte Konsequenzen hat das Urteil nicht, dennoch ist es für die Schweiz bindend.
Die Kommentare in hiesigen Medien allerdings fielen ernüchternd absehbar aus. Der «Tages-Anzeiger» reagierte mit einem verzagten «Oje oje», der «Blick» polterte in gewohnter Manier gegen die «Klima-Justiz», und die NZZ war … halt die NZZ. Natürlich wird auch der Kampfbegriff «fremde Richter» beschworen, obwohl die Schweiz im EGMR vertreten ist.
Politisch lief es genauso. Während Linksgrün schärfere Klimamassnahmen forderte, polemisierten Bürgerliche gegen das «übergriffige» Gericht. Die SVP fordert den Austritt der Schweiz aus dem Europarat – womit sie sich «freiwillig» in die Gesellschaft Russlands begeben würde, das nach dem Angriff auf die Ukraine rausgeworfen wurde.
Einmal mehr wird die nationale Souveränität beschworen, eine Art «heilige Kuh» für die bürgerliche Schweiz. Das ist absurd. Wenn ein «Phänomen» vor keiner Landesgrenze Halt macht, dann ist es die Klimakrise. Die Schweiz trage wenig dazu bei, heisst es. Doch sie ist weltweit eines der Länder mit einem viel zu grossen ökologischen Fussabdruck.
Als wichtigstes Argument muss die direkte Demokratie herhalten. Das Stimmvolk habe halt 2021 das CO2-Gesetz abgelehnt, das müsse man respektieren (obwohl es zwei Jahre später Ja zum von der SVP bekämpften Klimaschutzgesetz sagte). Entsprechend zahnlos ist die in der Frühjahrssession verabschiedete Neuauflage des CO2-Gesetzes.
Es enthält weder eine Lenkungs- noch eine Flugticket-Abgabe. Ein gesetzlich festgelegtes Inlandsziel beim Klimaschutz wurde auf Druck des Ständerats gestrichen. Dafür will die Schweiz Massnahmen zur Reduktion des Treibhausgas-Ausstosses im Ausland finanzieren, die ohnehin geplant waren. Die betreffenden Länder reiben sich die Hände.
Die Volksrechte werden als Hauptgrund dafür angeführt, warum die Schweiz bezüglich Souveränität ein «Sonderfall» sei. Weil das Volk in wichtigen politischen Fragen das letzte Wort habe, könne sie sich nicht einfach internationalen Organisationen und deren Rechtsprechung unterordnen. Dabei gibt es einen bestens bekannten «Präzedenzfall».
Bei der faktischen Nichtumsetzung der Masseneinwanderungsinitiative gewichtete das Parlament die Personenfreizügigkeit mit der EU höher als den vor zehn Jahren angenommenen Verfassungsartikel. Und damit die bilateralen Verträge. Es wäre eine ideale Gelegenheit für eine vertiefte Diskussion gewesen, doch sie fand nicht statt.
Der Zielkonflikt zwischen nationaler Souveränität und internationalem Recht ist ein heisses Eisen, das niemand anpacken will. Deshalb kommt immer wieder es zu heftigen Reaktionen wie beim Strassburger Klima-Urteil. Und zu überhitzten Debatten zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg bei den Beziehungen mit der EU.
Sie trug wesentlich zum Scheitern des Rahmenabkommens bei und belastet bereits jetzt die Verhandlungen mit Brüssel über ein neues Vertragspaket. Dabei ist der Fall sonnenklar: Wenn die Schweiz als Nichtmitglied am EU-Binnenmarkt teilnehmen will, muss sie sich an die dort geltenden Regeln halten und ihre Auslegung durch den EuGH respektieren.
Dies kann zu Unverträglichkeiten mit der direkten Demokratie führen. Deshalb ist die Schweiz vom Trilemma des Harvard-Ökonomen Dani Rodrik zwischen Demokratie, Souveränität und Globalisierung auch so stark betroffen wie kaum ein anderes Land. Der Strassburger Entscheid könnte deshalb eine Chance für eine fundierte Debatte sein.
Doch nichts deutet darauf hin, dass wir sie nutzen werden. Lieber erklären Politiker und Medien die neuen Verhandlungen mit der EU für gescheitert, bevor sie richtig begonnen haben. Lieber lamentieren sie in den sozialen Medien über die Strassburger Richter. Dabei sind weitere Konflikte, etwa mit der US-Justiz (ein ganz spezielles Kapitel), absehbar.
Nein, das Klima-Urteil vom Dienstag ist kein Skandal. Sondern ein «Clash» mit der Realität, juristisch und ökologisch. Das Perfide an der Klimakrise ist, dass sie sich schleichend vollzieht. Dabei sind ihre Folgen dramatisch, nicht nur für die Klimaseniorinnen. Das hat der EGMR anerkannt, und die Schweiz tut gut daran, dies zu respektieren.
Nur in einem Punkt bin ich nicht einverstanden: Es gibt keinen Clash mit der Souveränität. Die Schweiz hat sich selbst auferlegt, sich an die Menschenrechte zu halten. Niemand hat uns dazu gezwungen.
Der EGMR hat nun festgehalten, dass das Recht auf Gesundheit auch gilt, wenn es um's Klima geht. Das sollte niemanden überraschen. Wir sollten dem EGMR dafür dankbar sein, dass er sich für unser Recht einsetzt - auch wenn das Widerstand bei der Erdöl-Lobby und ihren Vertretern im Parlament und den Medien provoziert.
Danke für den Lacher!