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Klima-Urteil in Strasbourg: Das sagt eine Expertin

Interview

Klima-Urteil in Strassburg: «Das ist für alle Neuland – es wird spannend»

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fällte ein historisches Urteil gegen die Schweiz. Rechtsprofessorin Evelyne Schmid erklärt, was das bedeutet und spricht einen heiklen Aspekt an.
09.04.2024, 19:2610.04.2024, 09:15
Pascal Ritter / ch media
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Damit hat kaum jemand gerechnet: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gab den Klimaseniorinnen, einem von Greenpeace unterstützten Verein, recht: Die Schweiz verstösst gegen Menschenrechte, weil sie zu wenig gegen den Klimawandel tut.

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Rosmarie Wydler-Wälti und Anne Mahrer, Co-Präsidentinnen der Klimaseniorinnen, und, sowie das Rechtsteam, darunter Raphael Mahaim, im Gerichtssaal in Strassburg.Bild: keystone

Das historische Urteil wirft Fragen auf. Sollten nicht Volk, Stände und Regierung die Politik bestimmen? Welche Richter entschieden in Strassburg über die Schweiz? Warum kann die Schweiz gegen das Urteil nicht rekurrieren? Was passiert, wenn die Eidgenossenschaft nicht reagiert?

Kurz nach Bekanntwerden des Richterspruchs erreichten wir Evelyne Schmid am Telefon. Sie ist Professorin für Völkerrecht an der Universität Lausanne und lehrt und forscht dort zum Thema Menschenrechtsschutz. Sie beantwortet die brennendsten Fragen zum Klima-Urteil.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat heute den Klimaseniorinnen teilweise Recht gegeben. Was hat das Gericht im Wesentlichen entschieden?
Evelyne Schmid: Das Gericht hat die Schweiz wegen mangelnder Klimamassnahmen verurteilt. Der Klimawandel ist ein gravierendes Menschenrechtsproblem.

Zur Person
Evelyne Schmid ist Professorin für Menschenrechtsschutz (Völkerrecht) an der Uni Lausanne. Sie hat zum Prozess der Klimaseniorinnen gegen die Schweiz eine Drittintervention geschrieben zur Frage, wie völkerrechtliche Vorwürfe von Unterlassung beurteilt werden können und ob direktdemokratische Möglichkeiten einen Einfluss auf die rechtliche Beurteilung haben. (aargauerzeitung.ch)

Wie beurteilen Sie diesen Entscheid?
Das ist absolut historisch. Das höchste Europäische Menschenrechtsgericht hält fest, dass eine zögerliche Klimapolitik gegen die Menschenrechte verstösst. So etwas gab es bisher nicht. Weil die grosse Kammer des EGMR bestehend aus 17 Richtern den Fall entschieden hat, ist das Urteil ab sofort verbindlich und kann nicht angefochten werden.

Warum ging dieser Fall direkt in die grosse Kammer?
Eine gewöhnliche Kammer des Gerichts überwies den Fall wegen dessen Wichtigkeit an die höchste Instanz, wo er nun behandelt wurde.

Evelyne Schmid ist Professorin für Menschenrechtsschutz (Völkerrecht) an der Uni Lausanne.

Hat Sie der Entscheid erstaunt?
Nein, der eigentliche Entscheid nicht. Der Gerichtshof hielt mit 16 zu einer Stimme fest, dass die Schweiz bei der Schaffung des einschlägigen innerstaatlichen Rechtsrahmens kritische Lücken aufweist und ihren Verpflichtungen nicht nachkommt. Allerdings bin ich verblüfft, dass der Europäische Gerichtshof den Klimaseniorinnen als Nichtregierungsorganisation den Opferstatus zugesprochen hat, aber nicht den vier Einzelpersonen. Ich hatte noch keine Zeit für eine genaue Analyse, aber das könnte weitreichende Konsequenzen haben, denn in der Schweiz ist es im Vergleich zu anderen Ländern relativ leicht, eine NGO zu gründen.

Gleichzeitig mit den Schweizer Klimaseniorinnen gelangten junge Portugiesen und ein ehemaliger französischer Bürgermeister an das Gericht. Auch diesen Klägern ging es darum, Regierungen zu mehr Klimaschutz zu verpflichten. Sie unterlagen aber. Warum siegten die Schweizer Seniorinnen, nicht aber die anderen Kläger?
Im Unterschied zu den anderen Parteien war die Klage der Klimaseniorinnen verfahrensrechtlich wasserfester. Sie sind in der Schweiz durch alle Instanzen gegangen und sind erst als letzten Schritt an den EGMR gelangt. Die portugiesischen Jugendlichen haben dies nicht getan und argumentierten mit der Dringlichkeit, die es nicht erlaube, den langwierigen lokalen Rechtsweg einzuschlagen. Diesem Argument ist der Gerichtshof aber nicht gefolgt. Im französischen Fall urteilte ein französisches Gericht 2021 zugunsten der Gemeinde des Bürgermeisters, weil Frankreich zu wenig gegen den steigenden Meerspiegel unternimmt und der Klimawandel die Gemeinde stark bedroht. Heute vor dem EGMR ging es in diesem Fall nur noch darum, ob die französischen Gerichte die persönliche Beschwerde von Herrn Carême als Einzelperson anders hätten beurteilen sollen. Aber da er inzwischen nicht mehr Bürgermeister ist und nicht mehr in der Gemeinde wohnt, hat das Gericht die Klage aus formalen Gründen abgewiesen.

Gegen wen richtet sich das Urteil genau? Gegen den Bundesrat?
Das Urteil richtet sich gegen die Schweiz als Staat. Die Politik, also der Bundesrat, aber auch die Parlamente und Regierungen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene, müssen nun handeln.

Wurde die Schweiz verurteilt, weil sie sich nicht an das Pariser Klimaabkommen gehalten hat?
Nein, nicht direkt. Das Gericht urteilt nur auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention. Aber natürlich entsteht so ein Urteil nicht im luftleeren Raum. Es spielte für den Gerichtshof eine Rolle, dass sich die Staaten in Paris darauf verständigt haben, dass die Erderwärmung 1.5, oder zumindest «deutlich weniger» als 2 Grad nicht überschreiten soll. Das Gericht sagt nun, dass es nicht möglich ist, die Menschenrechte zu schützen, wenn die Schweiz nicht ihren Beitrag leistet, dass das Klima sich nicht über diesen Grenzwert erwärmt. Wir sind schlicht in einer grossen Gefahrenzone.

Was muss die Eidgenossenschaft nun unternehmen?
Das Gericht hält fest, dass die Schweiz zu wenig tut, um die Gesundheit der Klimaseniorinnen zu schützen. Wie üblich gibt es aber keine konkrete Handlungsanleitung. Viele Wege führen nach Rom. Im Urteil gibt es keine Anweisung, dass die Schweiz dieses oder jenes Gesetz einführen muss. Der Ball liegt jetzt eindeutig bei der Schweizer Politik. Sie muss dezidiertere Lösungen erarbeiten. Dabei gelten aber die gleichen Spielregeln wie immer. Die Gesetzte können mit Referenden verhindert werden oder Volksinitiativen lanciert werden.

Wer beurteilt, ob die Schweiz das Urteil umsetzt?
Das Ministerkomitee des Europarates wacht über die Umsetzung der Urteile des EGMR. Es berichtet regelmässig darüber. Die Berichterstattung endet, wenn die Schweiz in den Augen dieses Komitees das Urteil umgesetzt hat.

Was passiert, wenn die Schweiz nichts oder zu wenig unternimmt?
Dann verletzt die Schweiz die Menschenrechtskonvention weiterhin. Die Schweiz hat grundsätzlich einen guten Leistungsausweis, was die Umsetzung von EGMR-Urteilen anbelangt. In der Vergangenheit setzte sie diverse Urteile um. In den 1980er Jahren urteilte der EGMR zum Beispiel gegen das Verfahrensrecht des Kantons Waadt und der Fall schlug zuerst sehr hohe Wellen, bis zu Austrittsforderungen. Daraufhin passten die Kantone ihre Verfahrensregeln an und heute ist selbstverständlich, was damals noch kontrovers war. Im aktuellen Fall stehen wir noch ganz am Anfang. Die Behörden, Politikerinnen aber auch die Wissenschaft und das Ministerkomitee müssen nun erstmal den Urteilstext studieren und überlegen, welche Massnahmen der Schweiz den Rechtsbruch aufheben. Das ist für alle Neuland. Es wird spannend.

Das Urteil ist Wasser auf die Mühlen derer, die vor «fremden Richtern» warnen. Wer hat dieses Urteil eigentlich gefällt?
Die grosse Kammer des EGMR bestand aus 17 Richterinnen und Richtern, darunter der Schweizer Andreas Zünd, der zuvor Bundesrichter in Lausanne war. Es gehört zu den Abläufen des EGMR, dass ein Richter aus dem Land stammen muss, um das es geht. Die übrigen Richter stammen nicht aus der Schweiz, wurden aber von der parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt, in dem die Schweiz selbstverständlich auch vertreten ist.

Ist es nicht stossend, wenn ein Gericht demokratische Prozesse übersteuert?
Das Argument hört man immer wieder. Es braucht beides: Gesetzgeber, die demokratisch legitimiert sind, aber auch Gerichte. Die Richter des EGMR können nicht wiedergewählt werden und sind darum unter Umständen freier in ihren Entscheiden als Politiker. Sie können unliebsame Wahrheiten aussprechen, vor denen Politiker aus Angst um ihre Wiederwahl zurückschrecken. Aber ein Gericht allein kann nicht das Klimaproblem lösen. Es stellt eine Verletzung der EMRK fest und dies wirft wiederum politische Fragen auf, welche der Gesetzgeber und die Behörden beantworten müssen.

Sie haben dem Europäischen Gerichtshof eine Eingabe gesendet. Welchen Charakter hatte diese?
Ich habe dem Gericht eine Drittintervention übermittelt. Damit nutzte ich die Möglichkeit, als Expertin Wissen einzubringen, welches dem Gericht bei der Analyse helfen kann. Meine Eingabe war eine von 37. Ich schrieb sie zusammen mit Veronique Boillet, Professorin für Verfassungsrecht. Wir beurteilten die Frage, wie mit dem Vorwurf der Unterlassung umgegangen werden sollte. Es ist eine Sache, einen Staat wegen etwas zu verurteilen, was er tut, zum Beispiel Gefangene foltern. Weitaus schwieriger ist die Frage, wie mit einem Staat umzugehen ist, dem vorgeworfen wird, etwas nicht zu tun, in diesem Fall das Klima schützen. Zudem befassten wir uns in der Eingabe mit der Frage, ob es einen Unterschied macht, dass es in der Schweiz mit Initiative und Referendum direktdemokratische Instrumente gibt. Die Eingabe schrieben wir aus eigenen Stücken und ergriffen für keine Seite Partei.

Und, macht es einen Unterschied?
Nein. Das Bundesgericht verwies die Klimaseniorinnen in seinem negativen Entscheid auf die politischen Möglichkeiten. Dieses Argument verfängt meiner Ansicht nach in Fragen der Menschenrechte nicht. Auch wenn diese Instrumente für unser System zentral sind, müssen die Menschenrechte geschützt werden, unabhängig von der Ausgestaltung des politischen Systems. Volksinitiativen können wichtig sein, aber es braucht auch Gerichte, Parlamente, Behörden, die Wirtschaft und letztendlich uns alle, um die tiefgreifenden Veränderungen zu schaffen, welche so dringend notwendig sind.

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quelle: keystone / jean-christophe bott
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I don't know what you heard about me
09.04.2024 21:34registriert August 2014
Was muss und wird die Schweiz deswegen ändern? Nichts.
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Rick Hunter
09.04.2024 22:06registriert November 2022
Einige Leute sind der Meinung, dass die Schweiz ein zu kleines Land ist, damit Umweltschutzmaßnahmen im großen Ganzen wirksam sind. Allerdings vergessen sie, dass viele Länder die Politiken und technologischen Fortschritte, die hier gemacht werden, beobachten. Als wohlhabendes Land kann sich die Schweiz leisten, Ressourcen in Forschung und Entwicklung zu investieren, um hochwertige Analysen und Ergebnisse zu produzieren, die andere als Modell für ihre eigene Regierungsführung verwenden können.
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Schlaf
09.04.2024 21:56registriert Oktober 2019
Ich bin beruhigt, wenn solche Dinge am EGMR behandelt werden.
Es scheint in Europa gut um die Menschenrechte zu stehen!
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