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AHV-Rechnungsfehler: Warum das Vertrauen in die Politik gross bleibt

Stephane Rossini, Direktor Bundesamt fuer Sozialversicherungen BSV, links, diskutiert mit Bruno Parnisari, Stv. Direktor BSV, Leiter des Geschaeftsfeldes "Mathematik, Analysen und Statistik" ...
Stéphane Rossini und Bruno Parnisari mussten peinliche Neuigkeiten verkünden.Bild: keystone
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Falsche Zahlen des Bundes: Warum das Vertrauen trotzdem gross bleibt

Die AHV-Rechenpanne ist nicht der erste Statistik-Flop des Bundes. Um die Demokratie muss man sich deshalb nicht sorgen. Aber allzu oft sollten solche Fehler nicht passieren.
10.08.2024, 09:4511.08.2024, 14:20
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Den Verantwortlichen war anzusehen, wie peinlich ihnen die Angelegenheit war. Am Dienstag mussten Stéphane Rossini, der Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), und sein Stellvertreter Bruno Parnisari an einer Medienkonferenz einräumen, dass es der AHV finanziell besser geht als vom Bund kommuniziert.

Zwei fehlerhafte Formeln hätten dazu geführt, dass das Defizit in der AHV-Rechnung von 2024 bis 2033 um bis zu 14 Milliarden Franken zu hoch eingeschätzt worden sei. Es handelt sich nicht einfach um ein Statistikproblem, sondern um ein Politikum erster Güte. Denn um die Altersvorsorge und ihre finanzielle Sicherung wird seit Jahren gestritten.

La conseillere federale Elisabeth Baume-Schneider s'exprime suite aux revelations sur les erreurs de calcul sur la situation financiere de l'AVS, a l'occasion de sa visite au Festival i ...
Elisabeth Baume-Schneider schliesst personelle Konsequenzen nicht aus.Bild: keystone

Entsprechend fielen die Reaktionen aus. Die FDP nahm das seit Jahren von der Linken dominierte Innendepartement (Rossini ist ein ehemaliger Walliser SP-Nationalrat) aufs Korn. Rotgrün wiederum tobte wegen der Abstimmung vor zwei Jahren über die AHV 21, die den Frauen das Rentenalter 65 «bescherte» und nur ganz knapp angenommen wurde.

Beschwerde gegen Abstimmung

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ordnete eine Administrativuntersuchung an. Am Rande des Filmfestivals Locarno schloss sie am Donnerstag personelle Konsequenzen nicht aus. Keine Zeit verlieren wollen Grüne und SP Frauen. Sie möchten die Abstimmung über die AHV 21 mit Verweis auf die falschen Zahlen mit einer Beschwerde annullieren lassen.

Ihre Erfolgschancen werden kontrovers beurteilt. Ein Problem dürfte sein, dass die Reform seit dem 1. Januar 2024 in Kraft ist. Das Bundesgericht könnte die Rechtssicherheit höher gewichten als die fehlerhafte AHV-Rechnung. Aus dem gleichen Grund hatte es eine Beschwerde gegen die Unternehmenssteuerreform II abgewiesen.

«Geradezu schockierend»

Der Bund hatte die erwarteten Mindereinnahmen vor der Abstimmung 2008 viel zu tief eingeschätzt. Für die SP war es «der grösste Abstimmungsbetrug in der Geschichte der Schweiz». Dafür erklärte das Bundesgericht die Abstimmung 2016 zur CVP-Volksinitiative gegen eine Heiratsstrafe für ungültig, weil der Bundesrat vorgängig falsch informiert hatte.

Marco Romano, CVP/TI, Christophe Darbellay, Parteipraesident CVP/VS, Marianne Streiff EVP/BE und Nadja Pieren SVP/BE, von links, plaedieren fuer die Abschaffung der Heiratsstrafe neben einem Plakat am ...
Die Abstimmung über die Heiratsstrafe vom Februar 2016 wurde für ungültig erklärt.Bild: KEYSTONE

Es ging um die Zahl der betroffenen Doppelverdiener-Ehepaare. In den Abstimmungsunterlagen war von 80’000 die Rede. Tatsächlich hätten bei einem Ja mehr als 450’000 profitiert. Das Bundesgericht bezeichnete es als «geradezu schockierend», dass die Zahl nie korrigiert oder relativiert worden sei. Erstmals überhaupt wurde dadurch eine Abstimmung kassiert.

Gravierende Fälle im Ausland

Diese drei Beispiele sind mehr als ein Ärgernis. Denn das Stimmvolk erwartet, dass es vor einer Abstimmung mit korrekten Informationen versorgt wird. Nach dem AHV-Debakel gab es in den Medien harsche Kommentare. Das Vertrauen in die Daten des Bundes werde untergraben, hiess es bei Tamedia: «Das ist schlecht für die Demokratie.»

Mit Sicherheit sind die Berechnungsfehler mehr als ein Kavaliersdelikt. Dennoch sollte man den Ball flach halten. Im Ausland kam es zu gravierenderen Fällen. Dazu gehört der vor drei Jahren aufgeflogene Kindergeldskandal in den Niederlanden. Die Regierung hatte bedürftige Migrantenfamilien zu Unrecht beschuldigt, bei Anträgen betrogen zu haben.

Bürgernähe schafft Vertrauen

Die rund 20’000 betroffenen Eltern mussten korrekt bezogene Gelder zurückzahlen und gerieten oft in grosse finanzielle Not. Ihnen sei «beispielloses Unrecht» angetan worden, stellte eine Untersuchungskommission fest. Und muss man Donald Trump erwähnen, der sich bis heute weigert, seine Niederlage bei der Wahl 2020 anzuerkennen?

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Im Vergleich herrschen in der Schweiz «paradiesische» Zustände. Das liegt in erster Linie daran, dass Politik und Verwaltung so «bürgernah» sind wie in kaum einem anderen Land. Das sorgt für ein beträchtliches Grundvertrauen auch in den Bundesrat. In der jährlichen Sicherheitsstudie der ETH Zürich liegt es seit 30 Jahren über dem Durchschnitt.

Reformen werden nicht einfacher

Überall sonst kann eine Regierung von einer solchen Konstanz nur träumen. Im konkreten Fall kommt hinzu, dass der AHV-Rechenfehler nichts am Grundproblem ändert. Ab 2026 rutscht die AHV in die roten Zahlen, wegen der 13. Rente und der Pensionierung der geburtenstarken Babyboomer. Das Defizit ist einfach nicht so hoch wie befürchtet.

Die Debatte über Reformen bei der Altersvorsorge aber wird durch die Fehlprognose des zuständigen Bundesamts nicht einfacher. Sie könnte schon einen Einfluss haben bei der Abstimmung über die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) am 22. September, obwohl es zwischen der ersten und der zweiten Säule kaum Berührungspunkte gibt.

Demut statt Perfektionismus

Eine Häufung solcher Fehler können sich Politik und Verwaltung jedenfalls nicht leisten, sonst erodiert das Vertrauen tatsächlich. Eine Lösung skizziert die NZZ: «Statt mit eindeutigen Prognosen sollten die Behörden künftig häufiger mit Bandbreiten und Szenarien operieren. Sie sollten deutlicher signalisieren: Wir schätzen nur, wir wissen nicht.»

Mit anderen Worten: mehr Demut, weniger Perfektionismus. Das entspricht nicht unbedingt der Schweizer Mentalität, wäre aber ehrlicher. Dazu beitragen könnten Politik und Medien, indem sie der Verwaltung auf die Finger schauen und ihre Zahlen nicht einfach für bare Münze nehmen. Das gilt nicht zuletzt für die Linken mit ihrer Staatsgläubigkeit.

Ermahnung an die Linke

Pierre-Yves Maillard, als Waadtländer SP-Ständerat und Präsident des Gewerkschaftsbunds derzeit der «starke Mann» im linken Spektrum, nimmt «seine» Leute gegenüber CH Media diesbezüglich in die Pflicht: Linke Politiker müssten «besonders aufmerksam sein, und die Verwaltung, bei aller Wertschätzung, immer wieder herausfordern».

Dabei beruft sich Maillard auf seine Erfahrung als langjähriger Waadtländer Regierungsrat. Letztlich läuft es auf eine bekannte Redensart hinaus: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

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Volksinitiative «für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung»
Komitee: Kantonale Tierschutzvereine von Bern und Aargau sowie Antisemiten
Abgestimmt am: 20.08.1893
Inkrafttreten am: 22.12.1893
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104 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Franziskahulliger
10.08.2024 10:58registriert Februar 2018
Also mein Vertrauen hält sich in grenzen.
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Simon
10.08.2024 12:07registriert Januar 2014
Der Bundesverwaltung traue ich, dem Parlament, das der Verwaltung Aufträge erteilt, weniger: die Parlamentarier mit all ihren Mandaten und den Lobbyisten, die ihnen die Agenda diktieren, sind mir nicht geheuer.
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Lowend
10.08.2024 10:43registriert Februar 2014
Das Vertrauen in den Bund bleibt genau gleich, denn ich vertraute den Zahlen des Bundes noch nie. 🧐
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    SRF zeigt Fussballspiele, die der Sender nicht ausstrahlen darf – trotzdem schreitet die Aufsicht nicht ein. Dieser Entscheid stösst auf scharfe Kritik.

    Zum ersten Mal überhaupt hat das Bundesamt für Kommunikation ein Aufsichtsverfahren gegen die SRG durchgeführt. Grund war eine mögliche Verletzung der Konzession. Der öffentlich finanzierte Rundfunk könnte also die Regeln gebrochen haben, die für ihn gelten. Nun liegt die Verfügung des Bundesamts vor.

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