Den Verantwortlichen war anzusehen, wie peinlich ihnen die Angelegenheit war. Am Dienstag mussten Stéphane Rossini, der Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), und sein Stellvertreter Bruno Parnisari an einer Medienkonferenz einräumen, dass es der AHV finanziell besser geht als vom Bund kommuniziert.
Zwei fehlerhafte Formeln hätten dazu geführt, dass das Defizit in der AHV-Rechnung von 2024 bis 2033 um bis zu 14 Milliarden Franken zu hoch eingeschätzt worden sei. Es handelt sich nicht einfach um ein Statistikproblem, sondern um ein Politikum erster Güte. Denn um die Altersvorsorge und ihre finanzielle Sicherung wird seit Jahren gestritten.
Entsprechend fielen die Reaktionen aus. Die FDP nahm das seit Jahren von der Linken dominierte Innendepartement (Rossini ist ein ehemaliger Walliser SP-Nationalrat) aufs Korn. Rotgrün wiederum tobte wegen der Abstimmung vor zwei Jahren über die AHV 21, die den Frauen das Rentenalter 65 «bescherte» und nur ganz knapp angenommen wurde.
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ordnete eine Administrativuntersuchung an. Am Rande des Filmfestivals Locarno schloss sie am Donnerstag personelle Konsequenzen nicht aus. Keine Zeit verlieren wollen Grüne und SP Frauen. Sie möchten die Abstimmung über die AHV 21 mit Verweis auf die falschen Zahlen mit einer Beschwerde annullieren lassen.
Ihre Erfolgschancen werden kontrovers beurteilt. Ein Problem dürfte sein, dass die Reform seit dem 1. Januar 2024 in Kraft ist. Das Bundesgericht könnte die Rechtssicherheit höher gewichten als die fehlerhafte AHV-Rechnung. Aus dem gleichen Grund hatte es eine Beschwerde gegen die Unternehmenssteuerreform II abgewiesen.
Der Bund hatte die erwarteten Mindereinnahmen vor der Abstimmung 2008 viel zu tief eingeschätzt. Für die SP war es «der grösste Abstimmungsbetrug in der Geschichte der Schweiz». Dafür erklärte das Bundesgericht die Abstimmung 2016 zur CVP-Volksinitiative gegen eine Heiratsstrafe für ungültig, weil der Bundesrat vorgängig falsch informiert hatte.
Es ging um die Zahl der betroffenen Doppelverdiener-Ehepaare. In den Abstimmungsunterlagen war von 80’000 die Rede. Tatsächlich hätten bei einem Ja mehr als 450’000 profitiert. Das Bundesgericht bezeichnete es als «geradezu schockierend», dass die Zahl nie korrigiert oder relativiert worden sei. Erstmals überhaupt wurde dadurch eine Abstimmung kassiert.
Diese drei Beispiele sind mehr als ein Ärgernis. Denn das Stimmvolk erwartet, dass es vor einer Abstimmung mit korrekten Informationen versorgt wird. Nach dem AHV-Debakel gab es in den Medien harsche Kommentare. Das Vertrauen in die Daten des Bundes werde untergraben, hiess es bei Tamedia: «Das ist schlecht für die Demokratie.»
Mit Sicherheit sind die Berechnungsfehler mehr als ein Kavaliersdelikt. Dennoch sollte man den Ball flach halten. Im Ausland kam es zu gravierenderen Fällen. Dazu gehört der vor drei Jahren aufgeflogene Kindergeldskandal in den Niederlanden. Die Regierung hatte bedürftige Migrantenfamilien zu Unrecht beschuldigt, bei Anträgen betrogen zu haben.
Die rund 20’000 betroffenen Eltern mussten korrekt bezogene Gelder zurückzahlen und gerieten oft in grosse finanzielle Not. Ihnen sei «beispielloses Unrecht» angetan worden, stellte eine Untersuchungskommission fest. Und muss man Donald Trump erwähnen, der sich bis heute weigert, seine Niederlage bei der Wahl 2020 anzuerkennen?
Im Vergleich herrschen in der Schweiz «paradiesische» Zustände. Das liegt in erster Linie daran, dass Politik und Verwaltung so «bürgernah» sind wie in kaum einem anderen Land. Das sorgt für ein beträchtliches Grundvertrauen auch in den Bundesrat. In der jährlichen Sicherheitsstudie der ETH Zürich liegt es seit 30 Jahren über dem Durchschnitt.
Überall sonst kann eine Regierung von einer solchen Konstanz nur träumen. Im konkreten Fall kommt hinzu, dass der AHV-Rechenfehler nichts am Grundproblem ändert. Ab 2026 rutscht die AHV in die roten Zahlen, wegen der 13. Rente und der Pensionierung der geburtenstarken Babyboomer. Das Defizit ist einfach nicht so hoch wie befürchtet.
Die Debatte über Reformen bei der Altersvorsorge aber wird durch die Fehlprognose des zuständigen Bundesamts nicht einfacher. Sie könnte schon einen Einfluss haben bei der Abstimmung über die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) am 22. September, obwohl es zwischen der ersten und der zweiten Säule kaum Berührungspunkte gibt.
Eine Häufung solcher Fehler können sich Politik und Verwaltung jedenfalls nicht leisten, sonst erodiert das Vertrauen tatsächlich. Eine Lösung skizziert die NZZ: «Statt mit eindeutigen Prognosen sollten die Behörden künftig häufiger mit Bandbreiten und Szenarien operieren. Sie sollten deutlicher signalisieren: Wir schätzen nur, wir wissen nicht.»
Mit anderen Worten: mehr Demut, weniger Perfektionismus. Das entspricht nicht unbedingt der Schweizer Mentalität, wäre aber ehrlicher. Dazu beitragen könnten Politik und Medien, indem sie der Verwaltung auf die Finger schauen und ihre Zahlen nicht einfach für bare Münze nehmen. Das gilt nicht zuletzt für die Linken mit ihrer Staatsgläubigkeit.
Pierre-Yves Maillard, als Waadtländer SP-Ständerat und Präsident des Gewerkschaftsbunds derzeit der «starke Mann» im linken Spektrum, nimmt «seine» Leute gegenüber CH Media diesbezüglich in die Pflicht: Linke Politiker müssten «besonders aufmerksam sein, und die Verwaltung, bei aller Wertschätzung, immer wieder herausfordern».
Dabei beruft sich Maillard auf seine Erfahrung als langjähriger Waadtländer Regierungsrat. Letztlich läuft es auf eine bekannte Redensart hinaus: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.