Doris Leuthard sprach Klartext. «Je länger wir keine Lösung mit der EU finden, umso höher wird der Preis. Stillstand ist Rückschritt», sagte die scheidende CVP-Bundesrätin am Mittwoch vor der Bundesversammlung. Die EU entwickle sich weiter, ohne geregelten Rahmen büssten «die bilateralen Verträge schleichend an Schlagkraft ein», mahnte Leuthard.
Die Botschaft war unmissverständlich, dennoch dürfte sie im Nationalratssaal kaum angekommen sein. Ein grosser Teil der Parlamentarier hat beim Thema Rahmenabkommen die Ohren auf Durchzug gestellt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Leuthard hat wiederholt auf einen raschen Abschluss mit der EU gedrängt. Ihr «Abschiedswunsch» wird unerfüllt bleiben.
Am Freitag muss der Bundesrat definitiv über das ausgehandelte Rahmenabkommen entscheiden. Dann läuft das von der Europäischen Union ein letztes Mal verlängerte Ultimatum ab. Das Resultat ist absehbar: Eine Paraphierung des Vertrags, also eine faktische Absegnung ohne definitive Unterschrift, ist vom Tisch. Dafür sind nur Leuthard und der zuständige Aussenminister Ignazio Cassis (FDP).
Eine Brüskierung der EU durch eine Ablehnung des Vertrags will eine Mehrheit des Bundesrats jedoch auch nicht riskieren. Darauf deuten Gespräche mit informierten Personen hin. Vielmehr dürfte der Bundesrat einen Mittelweg beschreiten. Er wird das geheime Vertragswerk veröffentlichen und eine innenpolitische Debatte anstossen, etwa in Form einer Vernehmlassung.
Ein solcher Entscheid macht auf den ersten Blick Sinn. Über den Vertrag kursieren widersprüchliche Informationen. Einerseits heisst es, die Schweiz habe einige Verhandlungserfolge erzielt. So konnte sie die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping zumindest teilweise retten. Andere Quellen behaupten, sie könne diese nur unter bestimmten Bedingungen anwenden.
Es wäre gut zu wissen, was Sache ist. Ob die Debatte deswegen sachlicher wird, ist fraglich. Offen ist auch, ob die EU goutieren wird, dass die Schweiz einmal mehr auf Zeit spielen will. Verschiedene Signale aus Brüssel und den Mitgliedsstaaten deuten darauf hin, dass der Geduldsfaden gerissen ist und man einen Entscheid aus Bern erwartet.
Mögliche Strafmassnahmen gegen die Schweiz sind in der Pipeline. Die Börsenregulierung, auf die man in der Schweiz fixiert ist, ist dabei nicht einmal das Hauptproblem. Die EU bietet laut der Nachrichtenagentur Reuters eine Verlängerung der befristeten Anerkennung um zwei Jahre an, wenn der Bundesrat dem Rahmenvertrag zustimmt. Eine Bestätigung dafür gibt es nicht.
Bereits eingeleitet hat die EU letzte Woche eine von der hiesigen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommene Massnahme. Beim künftigen Forschungsprogramm Horizon Europe, das Horizon 2020 ablösen soll, droht der Schweiz eine Degradierung. Heute befindet sie sich bei den Drittstaaten in der Kategorie eins. Künftig soll sie in die Kategorie vier abgestuft werden.
Ein Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen liegt auf der Hand, auch wenn dies treuherzig dementiert wird. In Bern ist man darüber gar nicht erfreut. Die hiesigen Hochschulen haben stets betont, wie wichtig die Forschungszusammenarbeit mit Europa sei. Das betrifft etwa die begehrten ERC-Grants, eine Art Superstipendium für ambitionierte Nachwuchsforscher.
Und die EU hat weitere Pfeile im Köcher. Sie kann sich auf den Standpunkt stellen: «Wenn ihr den bilateralen Weg nicht weiterentwickeln wollt, legen wir den bilateralen Weg auf Eis.» Neue Abkommen etwa beim Strommarkt wären ohne Rahmenabkommen nicht möglich, obwohl die betroffene Branche ein solches im Frühjahr an einer Tagung in Basel eindringlich gefordert hat.
Die EU könnte auch die bestehenden bilateralen Verträge nicht mehr erneuern, was zu Arbeitsplatzverlusten in der Schweiz führen dürfte. Es ist bezeichnend für das Niveau der Europadebatte – inklusive die ewigen «Arena»-Sendungen zu diesem Thema –, dass man darüber kaum spricht, sondern sich auf Nebenschauplätzen wie der Börsenfrage verzettelt.
Denn selbst wenn die EU wider Erwarten stillhalten sollte, ist ein Ausweg aus der Misere nicht in Sicht. «Was geschieht im Anschluss an eine innenpolitische Debatte?», fragen sich die wenigen Europafreunde im Parlament händeringend. Die Fronten in der Schweiz sind verhärtet, nicht zuletzt aufgrund des erbitterten Widerstands der Gewerkschaften.
Ist wenigstens von den neuen Bundesrätinnen etwas zu erwarten? Viola Amherd hat sich zum Rahmenabkommen bislang vorsichtig geäussert. Die Walliserin gilt als persönliche und politische Vertraute von Doris Leuthard. Es ist möglich, dass sie deren Linie weiterführen wird. Die eigentlich rechtsbürgerliche Karin Keller-Sutter dagegen spricht beim Thema Lohnschutz wie eine Linke.
Vielleicht liegt das an ihrem bisherigen St. Galler Ständeratskollegen Paul Rechsteiner, mit dem sie sich sehr gut versteht. Beim Hearing vor der SP-Fraktion soll Keller-Sutter gemäss den Tamedia-Zeitungen den proeuropäischen Nationalrat Eric Nussbaumer regelrecht in den Senkel gestellt und dafür Szenenapplaus erhalten haben, was vor ein paar Jahren noch undenkbar schien.
Im neuen Amt wird Bundesrätin Keller-Sutter mit der Realpolitik konfrontiert sein, vor allem wenn sie den in der Europafrage lavierenden Johann Schneider-Ammann im Wirtschaftsdepartement beerben sollte. Denn letztlich geht es beim Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU nicht um Idealismus oder Internationalismus, sondern um knallharte Wirtschaftsinteressen.
Es lässt sich nicht leugnen, dass die Schweiz mit dem Rahmenabkommen einen Teil ihrer Souveränität abgeben muss. Das betrifft die Rechtsübernahme oder den Einbezug des Europäischen Gerichtshofs bei der Streitbeilegung. Tatsache ist aber auch, dass der Erfolg der Schweiz auf dem Export basiert und die EU mit Abstand unser wichtigster Partner ist.
Die Gretchenfrage lautet deshalb: Wie hast du's mit dem Wohlstand? Sind wir bereit, um der Eigenständigkeit willen Einbussen in Kauf zu nehmen? Die Vorstellung, wir könnten einen beschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt in anderen Weltgegenden kompensieren, stammt aus dem Wolkenkuckucksheim. Auch in der Wirtschaft sind sprachliche, kulturelle und geographische Nähe wichtig.
Eine solche Debatte müsste geführt werden. Sie wird kaum stattfinden. Die Schweiz wird weiter versuchen, sich durchzuwursteln und die Probleme «auszusitzen», wie der Berner Europaprofessor Klaus Armingeon im «Echo der Zeit» festgestellt hat. Während der bilaterale Weg in Doris Leuthards Worten «schleichend an Schlagkraft» einbüssen wird.