Der wohl letzte Rettungsversuch scheiterte am Dienstag. Gleich drei Bundesräte (Alain Berset, Ignazio Cassis, Johann Schneider-Ammann) trafen sich mit den Sozialpartnern, um über das ausgehandelte Rahmenabkommen mit der EU zu beraten. Die ohnehin geringe Chance auf einen Durchbruch materialisierte sich nicht. Die Gewerkschaften hielten pickelhart an den flankierenden Massnahmen fest, und auch die Wirtschaftsvertreter waren skeptisch.
Es wird immer wahrscheinlicher, dass der Rahmenvertrag bereits im Bundesrat abstürzen wird, womöglich schon in der Sitzung vom Freitag. Aussenminister Cassis kann wohl nur auf Schneider-Ammann und Doris Leuthard zählen, die beide aus dem Amt scheiden. Die SP-Mitglieder Alain Berset und Simonetta Sommaruga sollen das Abkommen grundsätzlich befürworten. Es heisst jedoch, sie befürchteten eine Niederlage im Parlament oder spätestens in der Volksabstimmung.
Unberechtigt sind solche Ängste nicht, denn auch aus der Politik überwiegen die negativen Rückmeldungen. Die grösste Partei des Landes ist ohnehin aus Prinzip gegen jegliche Art der Annäherung an die Europäische Union. Nach der Klatsche für ihre Selbstbestimmungsinitiative am letzten Sonntag wurde in manchen Medien eine Krise der SVP diagnostiziert.
Tatsächlich steckt die Partei seit einiger Zeit im Formtief. Und trotzdem hat die SVP gewonnen, und das triumphal. Sie hat mit ihrem Aufstieg vom Juniorpartner im Bundesrat zur klaren Nummer eins dafür gesorgt, dass eine vernünftige Diskussion über Aussen- und Europapolitik in der Schweiz so gut wie unmöglich geworden ist. Ein Beispiel ist der UNO-Migrationspakt.
Zum Thema wurde er erst, als die SVP an einer Medienkonferenz aus allen Rohren dagegen feuerte. Danach kippten die Mitte-Politiker reihenweise um. In der laufenden Session wird der Migrationspakt im Parlament beraten und ganz versenkt oder auf die lange Bank geschoben. Das ist ärgerlich, angesichts des Widerstands in anderen Ländern aber keine Tragödie.
Ganz anders sieht es beim Rahmenabkommen aus. Sein Inhalt ist geheim, dennoch sind Details durchgesickert. Sie lassen darauf schliessen, dass es «einige Verhandlungserfolge der Schweiz enthält», wie die NZZ schreibt. Europa-Staatssekretär und Chefunterhändler Roberto Balzaretti scheint es gelungen zu sein, in Brüssel bedeutende Zugeständnisse herauszuholen.
Demnach soll der Rahmenvertrag auf die fünf wichtigsten Marktzugangsabkommen beschränkt bleiben. Bei der «dynamischen» Übernahme von EU-Recht bekommt die Schweiz mehr Zeit. Und selbst einige flankierende Massnahmen kann sie beibehalten, wenn auch in abgeschwächter Form. So wird die Anmeldefrist für ausländische Firmen von acht auf vier Tage verkürzt.
Falls diese Informationen zutreffen, hat die Schweiz nüchtern betrachtet viel erreicht. Als Nichtmitglied von EU und EWR ist sie beim Zugang zum europäischen Binnenmarkt die Bittstellerin. Sie ist wirtschaftlich wesentlich stärker auf die EU angewiesen als umgekehrt. Trotzdem deutet alles darauf hin, dass der Rahmenvertrag versenkt wird.
Im Parlament unterstützen nur noch wenige ein solches Abkommen. Zu ihnen gehört Elisabeth Schneider-Schneiter, gescheiterte CVP-Bundesratskandidatin und Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats: «Ich wünsche mir eine Institutionalisierung unseres Verhältnisses mit der EU, um den bilateralen Weg langfristig zu retten.»
Eine Alternative dazu gebe es nicht, ist sie überzeugt. «Der Brexit zeigt, dass die EU am längeren Hebel sitzt.» Als Präsidentin der Handelskammer beider Basel weiss Schneider-Schneiter um die Bedeutung eines guten Einvernehmens mit den Nachbarländern. Dennoch dürfte sie mit ihren mahnenden Worten im Bundeshaus kein Gehör finden.
«Es ist das Verdienst der SVP, dass die anderen Parteien jetzt auch EU-kritisch sind», bringt es Parteidoyen Christoph Blocher im Interview mit CH Media auf den Punkt. Man kann seine Aussage weiterdrehen: Ohne Bunkermentalität der SVP wäre die Linke in der Europapolitik in einer wesentlich schwächeren Lage. So aber haben SP und Gewerkschaften leichtes Spiel, um die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping ohne Rücksicht auf Verluste zu verteidigen.
Die EU ist derzeit nicht in Bestform, während es der Schweiz gut geht. Das verführt zu einer gewissen Überheblichkeit und zu einer Verniedlichung der negativen Folgen eines Scheiterns, etwa durch «Vergeltungsmassnahmen» der EU.
FDP-Ständerätin und Bundesratskandidatin Karin Keller-Sutter schloss im NZZ-Interview nicht aus, dass die Schweiz «einen Preis in Form gewisser Schikanen» bezahlen müsse. «Vielleicht müssen wir das einfach aushalten», meinte sie.
Ständerat Hans Wicki, ihr parteiinterner Rivale um die Nachfolge von Johann Schneider-Ammann, sieht es weniger leichtfertig. Ein Nein zu einem Rahmenabkommen werde seinen Preis haben, sagte er den Tamedia-Zeitungen: «Ich befürchte, dass uns stürmische Zeiten bevorstehen.»
Als ehemaliger Geschäftsführer eines global tätigen Unternehmens kennt er die wirtschaftlichen Zusammenhänge. Auch Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter glaubt, dass es «der Wirtschaft massiv weh tun wird».
In der Bundesverwaltung soll laut der «NZZ am Sonntag» ein sogenanntes «Papier K» kursieren, das mögliche Strafaktionen der EU auflistet. Dazu gehört nicht nur die Verweigerung der Börsenäquivalenz, sondern auch eine Benachteiligung der Schweiz bei der Forschung und bei der Aufdatierung des bilateralen Abkommens über die technischen Handelshemmnisse.
Schon Anfang 2017 hatte die EU diesen Vertrag zum Nachteil der Schweizer Wirtschaft «eingefroren». Nun könnte gemäss «Schweiz am Wochenende» die wichtige Medizinaltechnik-Branche getroffen werden. Die Vorschriften in diesem Bereich sollen 2019 aktualisiert werden. Ist dies nicht der Fall, drohen Nachteile beim Marktzugang in die EU und Arbeitsplatzverluste.
Die Schweiz wäre in einem solchen Fall weitgehend machtlos. Riskiert sie eine Eskalation oder gar einen «Handelskrieg» mit der EU, kann sie nur verlieren. Das führt zu einem bösen Verdacht: Haben die Brüsseler Unterhändler der Schweiz absichtlich einen vorteilhaften Vertrag gewährt, weil ihnen bewusst war, dass er so oder so am Widerstand von links und rechts scheitern würde?
Einen Beweis dafür gibt es natürlich nicht, doch in Brüssel sitzen keine Naivlinge, sondern ausgekochte Profis, die die Debatte in der Schweiz aufs Genaueste verfolgen. Die Versuchung für sie müsste gross sein, die Schweiz in die Falle laufen zu lassen. Sie brauchen nur abzuwarten, bis der Bundesrat kleinlaut bei ihnen anklopft und um neue Verhandlungen bittet.
An Warnsignalen fehlt es nicht. Bei meinem Besuch in Brüssel im Frühsommer waren sie deutlich zu vernehmen. «Wenn es dieses Jahr nichts wird, würde ich nicht davon ausgehen, dass überhaupt noch etwas daraus wird», sagte eine mit den Gesprächen vertraute Person. Auch einige Vorkommnisse der letzten Tage müssten den EU-Skeptikern in diesem Land zu denken geben.
«Ich habe immer um Verständnis für die Schweiz geworben, aber irgendwann kommt der Moment der Entscheidung. Der ist jetzt», sagte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz in der NZZ. Es ist ein sicheres Indiz dafür, dass nicht nur in Brüssel, sondern auch bei den EU-Mitgliedsländern die Geduld mit der Schweiz zur Neige geht. Und wer will noch ernsthaft behaupten, der Brexit sei ein Vorbild für die künftigen Beziehungen der Schweiz mit der EU?
Ignazio Cassis ist nicht zu beneiden. Er und Roberto Balzaretti haben getan, was sie konnten. Verbockt hat es sein glückloser Vorgänger Didier Burkhalter, der die Zügel zu lange schleifen liess. Auch er stand im Banne der SVP-Drohkulisse. Nun droht der Worst Case. Scheitert das nun vorliegende Abkommen, muss die Schweizer Seite vielleicht irgendwann aus purer Notlage eines unterzeichnen, das wesentlich schlechter sein wird.
Das wäre nicht nötig, wenn man vernünftig darüber diskutieren könnte, wie der Lohnschutz in der Schweiz auch bei einer Abschwächung der flankierenden Massnahmen gesichert werden kann. Und man sich nicht von der SVP ins Bockshorn jagen lässt. Die Ablehnung ihrer Initiative deutet darauf hin, dass das Volk womöglich klüger und weitsichtiger ist als seine Vertreter in Bern.
Der Bundesrat könnte eine solche Debatte erzwingen, indem er das Rahmenabkommen durchwinkt. Vielleicht lässt er sich Zeit, bis seine neuen Mitglieder gewählt sind. Sie müssen den Entscheid ausbaden. Derzeit aber sieht es eher danach aus, dass die Schweiz sehenden Auges nicht gerade ins Verderben rennt, aber in gröbere Kalamitäten.