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13. AHV-Rente: Am Sonntag könnte es zum Tabubruch kommen

Nicht mehr viel im Portemonnaie - so geht es vielen Städtern und Singles. (Archivbild)
Das Portemonnaie war immer entscheidend bei Abstimmungen. Aber heute folgen die Leute nicht mehr einfach den Parolen der Wirtschaft. Bild: KEYSTONE
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Stimmt die Schweiz wirklich mit dem Portemonnaie ab?

Am Sonntag könnte erstmals eine linke Sozialausbau-Initiative angenommen werden. Das liegt nicht einfach am Egoismus des Stimmvolks. Es geht auch um verlorenes Vertrauen.
29.02.2024, 19:0001.03.2024, 14:17
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Bald wissen wir Bescheid. Am Sonntag entscheidet sich, ob das Schweizer Stimmvolk die Volksinitiative des Gewerkschaftsbunds für eine 13. AHV-Rente annehmen wird. Die Chancen auf ein Volksmehr, also einen Ja-Anteil von über 50 Prozent, sind reell. Selbst wenn die Initiative am Ständemehr scheitern sollte, wäre dieses Ergebnis ein Tabubruch.

Noch nie seit Einführung des Initiativrechts in der Schweiz wurde eine linke Volksinitiative angenommen, die einen Ausbau des Sozialstaats zum Ziel hatte. In der Regel gab es Nein-Mehrheiten von rund 60 Prozent und mehr. Das traf noch vor acht Jahren zu, als über die AHVplus-Initiative abgestimmt wurde, die die Renten um 10 Prozent anheben wollte.

Buttons und weitere Artikel zur Initiative 13. AHV Rente liegen auf, am Donnerstag, 8. Februar 2024, in Bern. Am 3. Maerz stimmt die Bevoelkerung ueber die Volksinitiative "Fuer ein besseres Lebe ...
Ein Ja zur 13. AHV-Rente ist möglich, und die Aufregung ist gross.Bild: keystone

Innerhalb relativ kurzer Zeit scheint die Stimmung im Volk gekippt zu sein. Die NZZ-Medien gerieten darob in Schnappatmung und publizierten einen alarmistischen Kommentar nach dem anderen. Ein ablehnender Leitartikel zur 13. AHV-Rente in den Tamedia-Zeitungen löste einen derartigen Shitstorm aus, dass sich die Chefredaktorin rechtfertigen musste.

Die Schweizerinnen und Schweizer waren lange der Überzeugung: Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für mich.

Was ist passiert? Ist die Schweiz «linker» geworden? Und stimmt sie «verstärkt mit dem Portemonnaie ab», wie die NZZ mutmasst? Anhaltspunkte gibt es. Vor rund dreieinhalb Jahren scheiterte die Konzernverantwortungsinitiative einzig am Ständemehr. Es folgten das Ja zur Pflegeinitiative und zur Initiative, die Minderjährige vor Tabakwerbung schützen will.

Ein Ja zu einer 13. AHV-Rente aber wäre nochmals eine neue Dimension. Nimmt der Egoismus des Stimmvolks zu? Solche Annahmen beruhen auf einem Denkfehler. Die Schweizerinnen und Schweizer haben immer mit dem Portemonnaie abgestimmt. Aber sie waren lange der Überzeugung: Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für mich.

Sinkende Glaubwürdigkeit

Also folgten sie fast sklavisch deren Vorgaben, auch bei Initiativen, die einen handfesten Vorteil in Aussicht stellten, etwa sechs Wochen Ferien für alle. Doch dieses Vertrauen wurde in den letzten Jahren erschüttert. Das Sorgenbarometer des Forschungsinstituts GFS Bern belegt eine sinkende Glaubwürdigkeit von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden.

Der Swissair-Liquidator hat sich mit ehemaligen Verantwortlichen der 2001 zusammengebrochenen Fluggesellschaft geeinigt. 29 ehemalige Organe zahlen insgesamt 2,75 Millionen Franken an die Nachlassgese ...
Das Grounding der Swissair war für viele ein Knackpunkt.Bild: sda

Der Politologe Lukas Golder sprach gegenüber der NZZ von einer «Entfremdung der Wirtschaft, vor allem der grossen internationalen Unternehmen». Dazu tragen ausländische Manager bei, die die Schweiz nur als Standortfaktor beurteilen und denen die Befindlichkeit der Bevölkerung am A… vorbeigeht. Hinzu kamen Fälle von katastrophaler Misswirtschaft.

Muss man sich angesichts solcher Exzesse wundern, wenn die «kleinen Leute» die Aufforderungen zum Masshalten nicht mehr ernst nehmen können?

Sie reichen vom Grounding der Swissair, die ein nationales Symbol war und von selbstherrlichen Managern und inkompetenten Verwaltungsräten zugrunde gerichtet wurde, bis zum Scheitern der Credit Suisse, der einstigen Kreditanstalt, die von selbstherrlichen Managern und inkompetenten Verwaltungsräten zugrunde gerichtet wurde.

Die Verantwortlichen kamen ungeschoren davon, finanziell und juristisch. Und das Treiben geht munter weiter. Der amerikanisch-indische CEO von Novartis erhielt letztes Jahr einen «Lohn» von 16 Millionen Franken, und der Konzern findet, er sei eigentlich noch unterbezahlt. Den lästigen Fragen der Schweizer Medien wollte sich Vas Narasimhan nicht stellen.

Dutzende Milliarden auf dem Tisch

Daniel Vasella, einer seiner Vorgänger, deklarierte einen «Scheinwohnsitz» in Monaco, weil ihm sogar das milde Steuerklima in Zug zu frostig erschien. Das Ja zur Abzocker-Initiative scheint vergessen zu sein. Muss man sich angesichts solcher Exzesse wundern, wenn die «kleinen Leute» die Aufforderungen zum Masshalten nicht mehr ernst nehmen können?

Swiss Finance Minister Karin Keller-Sutter, center, speaks beside Axel Lehmann, Chairman Credit Suisse, Colm Kelleher, Chairman UBS, Swiss Federal President Alain Berset, and Thomas J. Jordan, Chairma ...
Medienkonferenz zur Übernahme der Credit Suisse: Plötzlich waren Milliarden für «Garantien» vorhanden.Bild: keystone

Denn das Glaubwürdigkeitsproblem betrifft nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik. Finanzministerin Karin Keller-Sutter (FDP) wird nicht müde, vor tiefroten Zahlen zu warnen. Deshalb müsse der Bund sparen. Doch als sie letztes Jahr die Übernahme der CS durch die UBS «orchestrierte», lagen auf einmal Dutzende Milliarden für «Garantien» auf dem Tisch.

Wenn «systemrelevante» Firmen in Schieflage geraten, ist der Staat zur Stelle und schmeisst mit Geld um sich, das er angeblich nicht hat.

Und als sich der Energiekonzern Axpo am europäischen Strommarkt «verzockte», spannte der Bundesrat einen «Rettungsschirm» von vier Milliarden Franken auf, statt die Kantone als Eigentümer in die Pflicht zu nehmen. Es spielt keine Rolle, dass die CS-Übernahme dem Bund am Ende sogar einen Gewinn bescherte und der Axpo-Rettungsschirm ungenutzt zugeklappt wurde.

Es ist die Symbolwirkung, die zählt. Wenn «systemrelevante» Firmen in Schieflage geraten, ist der Staat zur Stelle und schmeisst mit Geld um sich, das er angeblich nicht hat. Das war auch bei den Corona-Krediten der Fall, wobei es sich um «höhere Gewalt» handelte, weshalb das Verständnis dafür grösser war (nicht aber für die Betrügereien).

«Wie kann ich selbst profitieren?»

Damit enden die Glaubwürdigkeitsprobleme des Staats aber nicht. Die Volksinitiative der SVP gegen Masseneinwanderung erlebte nur eine rudimentäre Umsetzung. Jene der Pflegeinitiative erfolgt im Schneckentempo, und beim Tabakwerbeverbot droht das totale Debakel, nachdem das zugehörige Gesetz am Donnerstag im Nationalrat «versenkt» wurde.

Es erstaunt wenig, dass die Hemmungen gegenüber einem Sozialausbau sinken. Am 9. Juni könnte es bei der Prämienentlastungs-Initiative der SP erneut passieren. Auch hier liegt ein permanentes Politikversagen vor. Seit Jahren scheitern in der Gesundheitspolitik selbst sinnvolle Massnahmen zur Kostendämpfung im Parlament am Druck der jeweiligen Lobbys.

Ob die 13. AHV-Rente kommen wird, wissen wir bald. Die Leute sind nicht dumm. Ihnen ist klar, dass sie irgendwie finanziert werden muss und sie einen Beitrag leisten müssten. Aber beim Abstimmen mit dem Portemonnaie steht nicht mehr wie früher die Frage im Vordergrund: «Was kostet es?» Sondern: «Wie kann ich selbst profitieren?»

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143 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Berner_in
29.02.2024 19:18registriert September 2018
Wenn «systemrelevante» Firmen in Schieflage geraten, ist der Staat zur Stelle und schmeisst mit Geld um sich, das er angeblich nicht hat. Genau auf den Punkt gebracht. Kein Wunder fühlt man sich als Einzelner zunehmend nicht mehr ernst genommen fängt an aufzubegehren…
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dWayne Gronson
29.02.2024 19:45registriert Mai 2014
Viele Nicht-Linke haben genauso wie ich die Nase gestrichen voll von der Bevorteilung der Reichen durch unsere Regierung. Das Volk ist gut genug um überall den Kopf hinzuhalten, während die Wirtschaft alle Goodies bekommt, was wiederum Milliarden kostet, die dann fehlen, wenn es um die eigene Bevölkerung geht. Unsere Senioren verdienen den Respekt, um in einem kapitalistisch unfairen System einen angenehmen Lebensabend bestreiten zu können. Es gäbe auch das faire kapitalistische System, wo alle profitieren. Die SP wird hier von vielen Nicht-Linken unterstützt denn es geht um das grosse Ganze.
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Geröllhaldenprofi
29.02.2024 19:30registriert September 2020
Spätestens seit geplanten Wiedereinführung der Stiftung um die Erbschaftssteuer (Wunsch der FDP) zu umgehen, ist es klar, dass man JA stimmen muss. Das Argument, dass die Initianten der AHV keine Idee haben wie das finanziert werden kann, ist nichtig. Die FDP hat keine Wort darüberloren wie die Steuerausfälle ihrer Bozenforderungsstiftung finanziert werden sollen. Wen es nach der FDP gehen würde. AHV nur noch 10 mal im Jahr auszahlen. Man kann ja die Superreichen nicht hängen lassen.
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