Bald wissen wir Bescheid. Am Sonntag entscheidet sich, ob das Schweizer Stimmvolk die Volksinitiative des Gewerkschaftsbunds für eine 13. AHV-Rente annehmen wird. Die Chancen auf ein Volksmehr, also einen Ja-Anteil von über 50 Prozent, sind reell. Selbst wenn die Initiative am Ständemehr scheitern sollte, wäre dieses Ergebnis ein Tabubruch.
Noch nie seit Einführung des Initiativrechts in der Schweiz wurde eine linke Volksinitiative angenommen, die einen Ausbau des Sozialstaats zum Ziel hatte. In der Regel gab es Nein-Mehrheiten von rund 60 Prozent und mehr. Das traf noch vor acht Jahren zu, als über die AHVplus-Initiative abgestimmt wurde, die die Renten um 10 Prozent anheben wollte.
Innerhalb relativ kurzer Zeit scheint die Stimmung im Volk gekippt zu sein. Die NZZ-Medien gerieten darob in Schnappatmung und publizierten einen alarmistischen Kommentar nach dem anderen. Ein ablehnender Leitartikel zur 13. AHV-Rente in den Tamedia-Zeitungen löste einen derartigen Shitstorm aus, dass sich die Chefredaktorin rechtfertigen musste.
Was ist passiert? Ist die Schweiz «linker» geworden? Und stimmt sie «verstärkt mit dem Portemonnaie ab», wie die NZZ mutmasst? Anhaltspunkte gibt es. Vor rund dreieinhalb Jahren scheiterte die Konzernverantwortungsinitiative einzig am Ständemehr. Es folgten das Ja zur Pflegeinitiative und zur Initiative, die Minderjährige vor Tabakwerbung schützen will.
Ein Ja zu einer 13. AHV-Rente aber wäre nochmals eine neue Dimension. Nimmt der Egoismus des Stimmvolks zu? Solche Annahmen beruhen auf einem Denkfehler. Die Schweizerinnen und Schweizer haben immer mit dem Portemonnaie abgestimmt. Aber sie waren lange der Überzeugung: Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für mich.
Also folgten sie fast sklavisch deren Vorgaben, auch bei Initiativen, die einen handfesten Vorteil in Aussicht stellten, etwa sechs Wochen Ferien für alle. Doch dieses Vertrauen wurde in den letzten Jahren erschüttert. Das Sorgenbarometer des Forschungsinstituts GFS Bern belegt eine sinkende Glaubwürdigkeit von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden.
Der Politologe Lukas Golder sprach gegenüber der NZZ von einer «Entfremdung der Wirtschaft, vor allem der grossen internationalen Unternehmen». Dazu tragen ausländische Manager bei, die die Schweiz nur als Standortfaktor beurteilen und denen die Befindlichkeit der Bevölkerung am A… vorbeigeht. Hinzu kamen Fälle von katastrophaler Misswirtschaft.
Sie reichen vom Grounding der Swissair, die ein nationales Symbol war und von selbstherrlichen Managern und inkompetenten Verwaltungsräten zugrunde gerichtet wurde, bis zum Scheitern der Credit Suisse, der einstigen Kreditanstalt, die von selbstherrlichen Managern und inkompetenten Verwaltungsräten zugrunde gerichtet wurde.
Die Verantwortlichen kamen ungeschoren davon, finanziell und juristisch. Und das Treiben geht munter weiter. Der amerikanisch-indische CEO von Novartis erhielt letztes Jahr einen «Lohn» von 16 Millionen Franken, und der Konzern findet, er sei eigentlich noch unterbezahlt. Den lästigen Fragen der Schweizer Medien wollte sich Vas Narasimhan nicht stellen.
Daniel Vasella, einer seiner Vorgänger, deklarierte einen «Scheinwohnsitz» in Monaco, weil ihm sogar das milde Steuerklima in Zug zu frostig erschien. Das Ja zur Abzocker-Initiative scheint vergessen zu sein. Muss man sich angesichts solcher Exzesse wundern, wenn die «kleinen Leute» die Aufforderungen zum Masshalten nicht mehr ernst nehmen können?
Denn das Glaubwürdigkeitsproblem betrifft nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik. Finanzministerin Karin Keller-Sutter (FDP) wird nicht müde, vor tiefroten Zahlen zu warnen. Deshalb müsse der Bund sparen. Doch als sie letztes Jahr die Übernahme der CS durch die UBS «orchestrierte», lagen auf einmal Dutzende Milliarden für «Garantien» auf dem Tisch.
Und als sich der Energiekonzern Axpo am europäischen Strommarkt «verzockte», spannte der Bundesrat einen «Rettungsschirm» von vier Milliarden Franken auf, statt die Kantone als Eigentümer in die Pflicht zu nehmen. Es spielt keine Rolle, dass die CS-Übernahme dem Bund am Ende sogar einen Gewinn bescherte und der Axpo-Rettungsschirm ungenutzt zugeklappt wurde.
Es ist die Symbolwirkung, die zählt. Wenn «systemrelevante» Firmen in Schieflage geraten, ist der Staat zur Stelle und schmeisst mit Geld um sich, das er angeblich nicht hat. Das war auch bei den Corona-Krediten der Fall, wobei es sich um «höhere Gewalt» handelte, weshalb das Verständnis dafür grösser war (nicht aber für die Betrügereien).
Damit enden die Glaubwürdigkeitsprobleme des Staats aber nicht. Die Volksinitiative der SVP gegen Masseneinwanderung erlebte nur eine rudimentäre Umsetzung. Jene der Pflegeinitiative erfolgt im Schneckentempo, und beim Tabakwerbeverbot droht das totale Debakel, nachdem das zugehörige Gesetz am Donnerstag im Nationalrat «versenkt» wurde.
Es erstaunt wenig, dass die Hemmungen gegenüber einem Sozialausbau sinken. Am 9. Juni könnte es bei der Prämienentlastungs-Initiative der SP erneut passieren. Auch hier liegt ein permanentes Politikversagen vor. Seit Jahren scheitern in der Gesundheitspolitik selbst sinnvolle Massnahmen zur Kostendämpfung im Parlament am Druck der jeweiligen Lobbys.
Ob die 13. AHV-Rente kommen wird, wissen wir bald. Die Leute sind nicht dumm. Ihnen ist klar, dass sie irgendwie finanziert werden muss und sie einen Beitrag leisten müssten. Aber beim Abstimmen mit dem Portemonnaie steht nicht mehr wie früher die Frage im Vordergrund: «Was kostet es?» Sondern: «Wie kann ich selbst profitieren?»