Ignazio Cassis galt als zu nett – jetzt feiern ihn Anhänger als Braveheart
«Cassis hat mich an Braveheart erinnert», sagte ein Besucher im Kultur- und Kongresszentrum Luzern. Im Film «Braveheart» hält der schottische Unabhängigkeitskämpfer William Wallace, gespielt von Mel Gibson, vor den Schlachten gegen die Engländer leidenschaftliche Reden. Sie sollen seine Männer zum Kampf motivieren.
Am «Lucerne Dialogue» – das sich neuerdings auch «European Economic Forum» nennt – treffen sich stets Ende November Unternehmer, Managerinnen und Politiker, die der Europäischen Union wohlgesinnt sind. Bundesrat Ignazio Cassis (FDP) hielt die Eröffnungsrede. Titel: «Die Rolle der Schweiz in Europa und der Welt.»
Die Gäste erwarteten eine Ansprache, in welcher der Aussenminister die Vorzüge des Vertragspakets mit der EU herausstreicht. Das tat Cassis. Dann änderte er aber den Ton.
Unternehmer sollen ihre Haltung in den Medien erklären
Es reiche nicht, sich unter Gleichgesinnten auszutauschen, sagte der Bundesrat zu den rund 700 Besuchern. Es reiche nicht, die gleiche Messe zu besuchen wie die anderen. «Sie müssen sich bewegen.»
Cassis rief die Wirtschaftsführer dazu auf, Kontakte mit den Medien zu suchen und ihnen zu erklären, warum die EU-Verträge wichtig seien. Er betonte, dass der Abstimmungskampf nicht zu Hause auf dem Sessel entschieden werde, sondern auf der Strasse, in den Vereinen und Organisationen.
An die Adresse der Regierungsräte sagte der Aussenminister: Sie sollten öffentlich kundtun, warum sie für die EU-Verträge seien. Das koste Mut, es koste Energie – «und man wird massakriert. Aber ich bin immer noch da und stehe.»
Cassis meinte nicht englische Heere, die sich zum Angriff formieren. Er spielte auf Kritik in den Medien und in den sozialen Online-Netzwerken an.
Der Aussenminister ermunterte die vielen Entscheidungsträger im Saal zu einer Medienoffensive. Er, der während mehr als einem Jahr keinem privaten Medium ein Interview gegeben hatte. Er, der im Herbst 2023 erklärte, dass er keine Zeitungen mehr lese – «sie helfen mir nicht, die Energie zu finden, um die richtigen Dinge zu tun.» Der Tessiner Bundesrat schimpfte über «schwachsinnige Zeitungsartikel.»
Cassis hat inzwischen aus dem Schmollwinkel herausgefunden. Die Antworten auf die Vernehmlassung zu den EU-Verträgen seien ermutigend, sagte er in den Saal. Zugleich betonte er: Es sei «verlorene Zeit», die rund «30 Prozent» der Schweizerinnen und Schweizer umzustimmen versuchen, welche die Abkommen strikt ablehnten. Die Aktivitäten sollten sich auf jenen Teil der Bevölkerung konzentrieren, der aufgeschlossen gegenüber den Verträgen, aber noch nicht ganz überzeugt sei.
Raus aus der Komfortzone! Redet mit den Journalisten, redet mit den Zweiflern! Der Appell des Aussenministers kam bei den Unterstützern des Vertragspakets gut an. FDP-Nationalrat Simon Michel, der Aargauer Finanzdirektor Markus Dieth (Mitte) und sein St.Galler Amtskollege Marc Mächler (FDP) waren angetan davon, wie Cassis die Zuhörer direkt adressierte – und sie in die Pflicht nahm.
Am gleichen Abend lud die Allianz Kompass Europa in Glattfelden im Kanton Zürich zu einer Veranstaltung, an der die EU-Abkommen zerpflückt wurden. Mit rund 500 Personen war der Anlass so gut besucht, dass die Reden und Podiumsdiskussionen auch in einen Nebenraum übertragen wurden.
SVP-Nationalrat Thomas Aeschi betont: Es gebe in der Schweiz Tausende Unternehmer, welche die Verträge aus Überzeugung ablehnten.
Den Vergleich mit dem Schotten hält die SVP für falsch
Was sagt der Fraktionschef der SVP dazu, dass Bundesrat Cassis nach seinem energiegeladenen Aufritt von Anhängern als Braveheart gefeiert wird?
«William Wallace war der Anführer des Widerstandes gegen den englischen König, der die Oberherrschaft über Schottland beanspruchte», sagt Aeschi. Mit dem EU-Paket mache Ignazio Cassis genau das Gegenteil: Die Schweiz würde gezwungen, sich der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit der EU zu unterstellen. Und sie würde zustimmen, sich von der EU für ihr nicht genehmen Volksentscheide bestrafen zu lassen. «Der Vergleich mit einem Freiheitskämpfer ist hier sicherlich nicht angemessen.»
FDP-Ständerat Damian Müller hält dagegen: «Voll und ganz» unterstütze er Cassis' Aufruf. «Wer Verantwortung trägt, soll sie jetzt wahrnehmen und erklären, warum dieses Vertragspaket für Arbeitsplätze, Innovation und unseren Wohlstand entscheidend ist. Die Zeit des Zauderns ist vorbei», sagt Müller. (aargauerzeitung.ch)
