Nächste Woche soll es wieder 30 Grad geben. Wir werden uns vorwiegend im Freien aufhalten, was die aktuelle Omikron-Welle dämpfen dürfte. Auch der Bedarf an Elektrizität und Erdgas ist im Sommer überschaubar. Wir sollten uns daran erfreuen, denn mit Beginn der kalten Jahreszeit könnte es in der Schweiz ziemlich schwierig werden.
Unser Land bietet einen sehr hohen Lebensstandard. Bei uns ist (fast) alles (fast) immer verfügbar. Das verführt zu Sorglosigkeit. Nach zwei schwierigen Pandemie-Jahren ist das Coronavirus nicht vergessen, aber die Sehnsucht nach der früheren Normalität ist gewaltig. Wir haben uns auch daran gewöhnt, dass Strom und Gas jederzeit verfügbar sind.
Das könnte sich nun rächen. In anderen Ländern warnen die Behörden vor einer heftigen Corona-Winterwelle, und sie aktivieren Notfallpläne für die Energieversorgung. Bei uns geschieht wenig. Der Bundesrat hat nach seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause vor einem Strom- und Gasmangel gewarnt. Man fragt sich aber, ob das genügt.
Derzeit sieht es so aus, als ob die Schweiz sehenden Auges in einen schwierigen Winter taumelt, auf den wir schlechter vorbereitet wirken als manche Länder im Ausland.
Die dauerempörten Alarmisten malen im Hinblick auf den Winter bereits wieder den Teufel an die Wand. Nüchtern betrachtet wissen wir nicht, was auf uns zukommt und welche Virusvarianten noch entstehen könnten. In den beiden ersten Corona-Wintern aber war die Lage in den Spitälern zeitweise extrem angespannt. Wachsamkeit ist somit angesagt.
Auf Seiten von Politik und Behörden aber herrscht das grosse Schweigen. Selbst für die aktuelle Sommerwelle scheint sich niemand zuständig zu fühlen. Für den Bund sind seit dem Ende der besonderen Lage die Kantone in der Pflicht. Deren Engagement aber ist wie stets in der Pandemie überschaubar. Lieber schieben sie die Verantwortung nach Bern ab.
Trotz Sommerwelle gibt es nicht einmal Aufrufe zum freiwilligen Maskentragen. In Frankreich hingegen hat Ministerpräsidentin Elisabeth Borne am Mittwoch zu besten Sendezeit im Fernsehen die Bevölkerung aufgefordert, in geschlossenen Räumen oder bei einer grossen Menschenansammlung eine Maske zu tragen, «vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln».
Ähnlich sieht es bei den Impfungen aus. Bei uns wurde diese Woche erst den über 80-Jährigen eine sofortige vierte Impfdosis empfohlen. Alle anderen sollen irgendwann im Herbst an die Reihe kommen. In den USA hingegen sollen sich schon die über 50-Jährigen erneut impfen lassen, wenn der erste Booster mindestens vier Monate zurückliegt.
Auch andere Länder bieten den zweiten Booster an. Zwar schützen die Impfstoffe nur bedingt vor einer Ansteckung mit den Omikron-Varianten, aber sie bieten nach wie vor einen guten Schutz vor schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen. Gerade in der Schweiz mit ihrer ohnehin tiefen Impfquote wirkt die Zögerlichkeit befremdlich.
Die Schweiz ist im Winter auf Stromimporte angewiesen, und das seit vielen Jahren. Diese sind nun gefährdet wegen des Ausfalls zahlreicher französischer Atomkraftwerke, und weil die Lieferung von russischem Gas, das in der europäischen Stromversorgung eine wichtige Rolle spielt, nicht garantiert ist. Hinzu kommt das fehlende Stromabkommen mit der EU.
Zum grossen Teil kann sich die Schweiz selbst versorgen, dank Wasserkraft und eigenen AKWs. Es kann sein, dass wir mit Sparappellen und einer allfälligen zeitweisen Abschaltung von nicht zwingend notwendigen Anlagen (Solarien, Saunas, Schwimmbäder, Rolltreppen) das kommende Winterhalbjahr einigermassen glimpflich überstehen können.
Aber die Lage ist fragil. Wenn es in den nächsten Wochen nicht kräftig regnet (derzeit sieht es nicht danach aus), dürften die Pegel in den Stauseen zu Beginn der kalten Jahreszeit unter dem Durchschnitt liegen, wegen des schneearmen letzten Winters. Gleichzeitig verlangt das Departement UVEK eine Wasserkraftreserve schon im kommenden Winter.
Kritisch wird es auch, falls ein AKW – unsere Reaktoren sind nicht mehr die jüngsten – ungeplant ausfallen sollte. Nach dem Ja zur Energiestrategie 2050 glaubte die Politik, sie könne sich mit der Umsetzung Zeit nehmen, denn auf dem europäischen Markt herrschte eine Stromschwemme. An die nun drohende Knappheit wollte niemand denken.
Während man die Lage beim Strom als labil bezeichnen kann, ist sie beim Erdgas extrem kritisch. Die Schweiz ist auf Gedeih und Verderben vom Ausland abhängig, und in der Stadt Zürich etwa wird rund die Hälfte aller Wohnungen mit Gas beheizt. Falls Wladimir Putin den Gashahn tatsächlich zudrehen sollte, ist die Versorgung nicht gewährleistet.
«Diese Krise in der Schweiz ist zu einem grossen Teil selbstverschuldet», sagte der frühere Swiss-Chef Andé Dosé, heute Präsident von Swissgas, in einem NZZ-Interview, das diese Woche für beträchtliches Aufsehen sorgte. Denn Dosé schildert die Lage im Stil des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck mit unverblümten Worten.
So hat die Schweiz keine Gasspeicher, und die Langfristverträge mit europäischen Versorgungsunternehmen liess man auslaufen. Es gab ja genug billiges Gas auf dem Markt. «Man konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass eine Gasknappheit eintreten könnte, weder in der Gasindustrie noch beim Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung», so Dosé.
Nun versucht man eilig zu handeln, mit reservierten Speicherkapazitäten im Ausland und Optionen auf Lieferungen. Allerdings würden die Lieferanten laut André Dosé «astronomisch hohe finanzielle Garantien für die Optionen verlangen». Unternehmen werden deshalb aufgefordert, auf Heizöl umzustellen. Auch das aus Erdöl gewonnene Propangas ist gefragt.
Ob Corona, Elektrizität oder Erdgas: Die Schweiz taumelt regelrecht in die kalte Jahreszeit. Sie scheint auf das Prinzip Hoffnung zu setzen, dass es mit Corona halb so schlimm kommt. Oder dass Putin die Drohgebärden im entspannten Sommer nur dazu nutzt, dem Westen Angst einzujagen, und am Ende das Gas doch fliessen lässt, weil er das Geld braucht.
Es ist ein zynisches Kalkül, aber es könnte aufgehen. Die russische Pipeline-Infrastruktur ist nach Westen ausgerichtet. Das Gas kann nicht einfach nach China umgeleitet werden. Aber das ist nur eine Hoffnung, und die ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Im schlimmsten Fall droht dem Image der Schweiz als Land, in dem alles klappt, ein massiver Schaden.