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Linksaussen oder pragmatisch? Die Grünen stehen am Scheideweg

Gerhard Andrey, GP-FR, rechts, diskutiert mit Balthasar Glaettli, GP-ZH, an der Fruehjahrssession der Eidgenoessischen Raete, am Donnerstag, 9. Maerz 2023 in der Wandelhalle des Nationalrats in Bern.  ...
Der linke «Fundi» Balthasar Glättli (l.) diskutiert mit «Realo» Gerhard Andrey in der Wandelhalle.Bild: keystone
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Linksaussen oder pragmatisch? Die Grünen stehen am Scheideweg

Unter dem Präsidium von Balthasar Glättli sind die Grünen an den linken Rand gerutscht. Nach den bitteren Wahlniederlagen stellt sich die Frage, was sie dort gewinnen wollen.
13.11.2023, 15:32
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Mit einer vollmundigen Ansage hatte Grünen-Präsident Balthasar Glättli das Wahljahr 2023 eingeläutet: «Wir wollen die drittstärkste Partei werden in diesem Land», sagte der Zürcher Nationalrat Ende Januar vor den Delegierten in Genf. Dieses Ziel wurde um Längen verfehlt. Die Grünen landeten am 22. Oktober mit deutlichem Abstand auf Platz 5.

Sie verloren fünf Sitze im Nationalrat und 3,4 Prozent Wähleranteile. Am Sonntag folgte ausgerechnet in Genf der nächste Tiefschlag mit der Abwahl von Ständerätin Lisa Mazzone. In der Waadt konnten sie den bisherigen Sitz nicht verteidigen. Damit bleiben den Grünen nur drei Sitze in der kleinen Kammer, denn ein Erfolg am Sonntag im Tessin ist unrealistisch.

Lisa Mazzone, candidate Les Verts a l'election au Conseil aux Etats, s'exprime sur un plateau de television a l'hotel-de-ville lieu de la presentation des resultats, lors du 2e tour des ...
Sie hatte grosse Pläne: Die sichtlich enttäuschte Lisa Mazzone kommentiert am Sonntag ihre Abwahl.Bild: keystone

Gleiches gilt für die Bundesratswahl. Eine reelle Chance auf einen FDP-Sitz hatten sie ohnehin nie. Mit Mazzone, deren politische Karriere mit nur 35 Jahren vorerst zu Ende ist, verliert die Partei zudem ein Aushängeschild mit Ambitionen, die sie im Interview mit Radio SRF nicht verheimlichte. Sie galt als mögliche Parteipräsidentin und künftige Bundesrätin.

Viel geschlossener als zuvor

Ihr Scheitern ist für die Grünen in mehrfacher Hinsicht bitter. So hatte sich Lisa Mazzone im «Stöckli» als Dealmakerin in der Energiepolitik profiliert. Und ihrer Partei Kompromisse – etwa beim Landschaftsschutz – abgerungen, die den Grünen zunehmend schwerfallen. Unter dem Präsidium von Balthasar Glättli sind sie noch weiter nach links gerutscht als zuvor.

Das zeigt das Anfang Oktober veröffentlichte NZZ-Parlamentarier-Rating. Im Nationalrat waren die Grünen in den letzten vier Jahren links von der SP positioniert. Und niemand im Nationalrat stand so weit links wie Balthasar Glättli. Insgesamt haben die Grünen in der vergangenen Legislatur «viel geschlossener gestimmt als noch in jener zuvor», so die NZZ.

Identisch mit der SP

Eine grössere Geschlossenheit trotz des starken Wachstums der Fraktion bei der «grünen Welle» 2019 von 11 auf 28 Mitglieder im Nationalrat könnte man als Errungenschaft bezeichnen. Im Fall der Grünen ging sie auf Kosten eines eigenständigen Profils, denn sie stimmten fast immer deckungsgleich mit der SP, wie die «Sonntagszeitung» aufzeigte.

Die Parteipraesidentin der Gruenen Schweiz, Regula Rytz bei ihrer Rede anlaesslich der Delegiertenversammlung der Gruenen Schweiz , am Samstag, 12. Januar 2019 in der Hochschule Luzern Design & Ku ...
Unter dem Präsidium von Regula Rytz waren die Grünen auch links, doch das Meinungsspektrum war breiter.Bild: KEYSTONE

Das rotgrüne Lager verhielt sich damit weitaus homogener als das bürgerliche. So hatten sich SVP und FDP bei mehr als 40 Prozent aller Abstimmungen unterschiedlich positioniert, SP und Grüne bei weniger als zehn Prozent. Schon unter Glättlis Vorgängerin Regula Rytz waren die Grünen eine linke Partei, doch das Meinungsspektrum war breiter.

«Vorspiel» 2004 in Zürich

Die Partei hielt dies aus, weil die Bernerin eine Integrationsfigur war. Diese Rolle behagt dem verkopft wirkenden Zürcher Glättli weniger. Überraschen kann der prononcierte Linkskurs unter seiner Führung nicht. Schon 2004 hatte Glättli in der Zürcher Kantonalsektion den «Putsch» gegen die «Rechtsabweichler» um Martin Bäumle orchestriert.

Er führte zu deren Austritt und zur Gründung der Grünliberalen Partei. Nun stellt sich die Frage, was die Grünen am linken Rand im Nationalrat und mit drei Sitzen im Ständerat, mit denen sie keine eigenständige Gruppe mehr bilden können, gewinnen wollen. Ihnen droht die Rückkehr in eine Rolle, die sie hinter sich lassen wollten: zum Juniorpartner der SP.

Kaufkraft statt Klimakrise

Auch deshalb hat Lisa Mazzones Abwahl im Kanton Genf einen bitteren Beigeschmack. Sie unterlag nicht nur dem Rechtspopulisten Mauro Poggia, sondern vor allem dem 64-jährigen SP-«Urgestein» Carlo Sommaruga. Dank der Unterstützung durch die Gewerkschaften und mit seinem Profil als Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbands setzte er sich durch.

Les affiches de Mauro Poggia - MCG / GE et Celine Amaudruz - UDC / GE, et de Lisa Mazzone - Les Verts / GE et Carlo Sommaruga - Parti socialiste / GE, candidats genevois au deuxieme tour de l'ele ...
Der gemeinsame Wahlkampf in Genf nützte nichts. Gewählt wurde Carlo Sommaruga.Bild: keystone

Damit passte Oldie Sommaruga offenbar besser zum «Zeitgeist», in dem die Sorge um die Kaufkraft die Klimakrise «übersteuert». Für Genf mit den schweizweit höchsten Mieten und Krankenkassenprämien mag dies besonders gelten, dennoch zeigt es ein weiteres Problem der Grünen. Sie sind wie die SVP abhängig von der Themenkonjunktur.

Wieder eine Einthemen-Partei?

Was für die Rechtspopulisten Asyl und Zuwanderung, ist für die Grünen die Öko- und Klimakrise. Sie wird nicht verschwinden, im Gegenteil, weshalb es wieder aufwärtsgehen kann. Aber auch das wäre ein Rückfall in die alten Zeiten, in denen die Grünen von der politischen Konkurrenz als Einthemen-Partei abgestempelt und lächerlich gemacht wurden.

Entspricht dieses Stigma dem von Balthasar Glättli in Genf formulierten Ziel einer «gerechten und glücklichen Gesellschaft innerhalb der planetaren Grenzen»? Solche wohltönenden Ansprüche können nur mit einer gewissen Bodenhaftung erreicht werden, doch damit tun sich der Parteipräsident und auch Fraktionschefin Aline Trede häufig schwer.

Bodenständig und pragmatisch

Ein konkretes Beispiel ist die Weitergabe von Waffen an die Ukraine. Im Gegensatz zu europäischen Schwesterparteien haben sich die Grünen auf eine fundamental-pazifistische Doktrin festgelegt, die Waffenlieferungen kategorisch ausschliesst. Als Folge davon sagten mehrere Leute in meinem Umfeld, sie würden keinesfalls mehr die Grünen wählen.

Vielleicht sollten sie sich an Exponenten wie Bundesratskandidat Gerhard Andrey orientieren. Als Bauernsohn und IT-Unternehmer steht der Freiburger Nationalrat für eine bodenständige und pragmatische Politik. Diese ist auf lange Sicht erfolgversprechender als die Positionierung am linken Rand, auch mit Blick auf den angepeilten Sitz im Bundesrat.

Mehr Andrey statt Glättli? Der Parteipräsident schloss am Wahlabend einen Rücktritt nicht aus. Mit einem Personalwechsel aber wäre es nicht getan. Die Grünen müssen sich klar werden, was sie sein wollen: eine Linksaussen-Protestpartei oder eine politische Kraft, die Verantwortung übernimmt – wie sie das in Gemeinden und Kantonen schon heute tun.

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148 Kommentare
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Skunk42
13.11.2023 16:31registriert Februar 2022
Mit den Schwerpunkten strikte Migrationspolitik und Umweltschutz findet man in der CH schlicht keine Partei. Wäre aber wohl etwas, was regen Zuspruch finden würde.
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sweeneytodd
13.11.2023 15:43registriert September 2018
Das weiter nach Links rutschen, wird über kurz oder lang den Todesstoss für die Grünen sein. Die SP ist schon weiter nach links gerutscht und befasst sich vermehrt auch mit grünen Themen, da fehlt dann irgendwann der Platz oder man macht sich gegenseitig die Plätze streitig. (Selbes Bsp. bei der FDP die immer näher zur SVP rückt). Grosses Potential wäre vorhanden, wenn sie richtung (politische) Mitte rückt. Dort ist mit dem rebranding der Mitte und dem immer extremer werdenden Polen in Zukunft viel zu holen. Linksliberal/Mitte attestiere ich in Zukunft viel Gewinne.
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aglaf
13.11.2023 16:03registriert März 2019
Ich vermute, dass auch die Klimakleber den "Normal"-Bürger ziemlich hässig gemacht haben. Es gibt oder gab durchaus auch grün-wählende Autofahrer, die vielleicht nicht ins Flugzeug hocken und sich auch nicht bloss über Plastik-Trinkröhrli echauffieren. Aber das ständige Rumgereite und schlechtes Gewissen machen hält keiner mehr aus. Allen ist klar, dass Klimathemen wichtig sind; beim Einzelbürger wäre wohl Nudging effektiver als Verbieten. Bei der Forschung und Entwicklung sollte mal etwas vorwärts gehen. Solar und Windkraft sind Jahrzehnte in den Kinderschuhen und eher Greenwashing.
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