Mit einer vollmundigen Ansage hatte Grünen-Präsident Balthasar Glättli das Wahljahr 2023 eingeläutet: «Wir wollen die drittstärkste Partei werden in diesem Land», sagte der Zürcher Nationalrat Ende Januar vor den Delegierten in Genf. Dieses Ziel wurde um Längen verfehlt. Die Grünen landeten am 22. Oktober mit deutlichem Abstand auf Platz 5.
Sie verloren fünf Sitze im Nationalrat und 3,4 Prozent Wähleranteile. Am Sonntag folgte ausgerechnet in Genf der nächste Tiefschlag mit der Abwahl von Ständerätin Lisa Mazzone. In der Waadt konnten sie den bisherigen Sitz nicht verteidigen. Damit bleiben den Grünen nur drei Sitze in der kleinen Kammer, denn ein Erfolg am Sonntag im Tessin ist unrealistisch.
Gleiches gilt für die Bundesratswahl. Eine reelle Chance auf einen FDP-Sitz hatten sie ohnehin nie. Mit Mazzone, deren politische Karriere mit nur 35 Jahren vorerst zu Ende ist, verliert die Partei zudem ein Aushängeschild mit Ambitionen, die sie im Interview mit Radio SRF nicht verheimlichte. Sie galt als mögliche Parteipräsidentin und künftige Bundesrätin.
Ihr Scheitern ist für die Grünen in mehrfacher Hinsicht bitter. So hatte sich Lisa Mazzone im «Stöckli» als Dealmakerin in der Energiepolitik profiliert. Und ihrer Partei Kompromisse – etwa beim Landschaftsschutz – abgerungen, die den Grünen zunehmend schwerfallen. Unter dem Präsidium von Balthasar Glättli sind sie noch weiter nach links gerutscht als zuvor.
Das zeigt das Anfang Oktober veröffentlichte NZZ-Parlamentarier-Rating. Im Nationalrat waren die Grünen in den letzten vier Jahren links von der SP positioniert. Und niemand im Nationalrat stand so weit links wie Balthasar Glättli. Insgesamt haben die Grünen in der vergangenen Legislatur «viel geschlossener gestimmt als noch in jener zuvor», so die NZZ.
Eine grössere Geschlossenheit trotz des starken Wachstums der Fraktion bei der «grünen Welle» 2019 von 11 auf 28 Mitglieder im Nationalrat könnte man als Errungenschaft bezeichnen. Im Fall der Grünen ging sie auf Kosten eines eigenständigen Profils, denn sie stimmten fast immer deckungsgleich mit der SP, wie die «Sonntagszeitung» aufzeigte.
Das rotgrüne Lager verhielt sich damit weitaus homogener als das bürgerliche. So hatten sich SVP und FDP bei mehr als 40 Prozent aller Abstimmungen unterschiedlich positioniert, SP und Grüne bei weniger als zehn Prozent. Schon unter Glättlis Vorgängerin Regula Rytz waren die Grünen eine linke Partei, doch das Meinungsspektrum war breiter.
Die Partei hielt dies aus, weil die Bernerin eine Integrationsfigur war. Diese Rolle behagt dem verkopft wirkenden Zürcher Glättli weniger. Überraschen kann der prononcierte Linkskurs unter seiner Führung nicht. Schon 2004 hatte Glättli in der Zürcher Kantonalsektion den «Putsch» gegen die «Rechtsabweichler» um Martin Bäumle orchestriert.
Er führte zu deren Austritt und zur Gründung der Grünliberalen Partei. Nun stellt sich die Frage, was die Grünen am linken Rand im Nationalrat und mit drei Sitzen im Ständerat, mit denen sie keine eigenständige Gruppe mehr bilden können, gewinnen wollen. Ihnen droht die Rückkehr in eine Rolle, die sie hinter sich lassen wollten: zum Juniorpartner der SP.
Auch deshalb hat Lisa Mazzones Abwahl im Kanton Genf einen bitteren Beigeschmack. Sie unterlag nicht nur dem Rechtspopulisten Mauro Poggia, sondern vor allem dem 64-jährigen SP-«Urgestein» Carlo Sommaruga. Dank der Unterstützung durch die Gewerkschaften und mit seinem Profil als Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbands setzte er sich durch.
Damit passte Oldie Sommaruga offenbar besser zum «Zeitgeist», in dem die Sorge um die Kaufkraft die Klimakrise «übersteuert». Für Genf mit den schweizweit höchsten Mieten und Krankenkassenprämien mag dies besonders gelten, dennoch zeigt es ein weiteres Problem der Grünen. Sie sind wie die SVP abhängig von der Themenkonjunktur.
Was für die Rechtspopulisten Asyl und Zuwanderung, ist für die Grünen die Öko- und Klimakrise. Sie wird nicht verschwinden, im Gegenteil, weshalb es wieder aufwärtsgehen kann. Aber auch das wäre ein Rückfall in die alten Zeiten, in denen die Grünen von der politischen Konkurrenz als Einthemen-Partei abgestempelt und lächerlich gemacht wurden.
Entspricht dieses Stigma dem von Balthasar Glättli in Genf formulierten Ziel einer «gerechten und glücklichen Gesellschaft innerhalb der planetaren Grenzen»? Solche wohltönenden Ansprüche können nur mit einer gewissen Bodenhaftung erreicht werden, doch damit tun sich der Parteipräsident und auch Fraktionschefin Aline Trede häufig schwer.
Ein konkretes Beispiel ist die Weitergabe von Waffen an die Ukraine. Im Gegensatz zu europäischen Schwesterparteien haben sich die Grünen auf eine fundamental-pazifistische Doktrin festgelegt, die Waffenlieferungen kategorisch ausschliesst. Als Folge davon sagten mehrere Leute in meinem Umfeld, sie würden keinesfalls mehr die Grünen wählen.
Vielleicht sollten sie sich an Exponenten wie Bundesratskandidat Gerhard Andrey orientieren. Als Bauernsohn und IT-Unternehmer steht der Freiburger Nationalrat für eine bodenständige und pragmatische Politik. Diese ist auf lange Sicht erfolgversprechender als die Positionierung am linken Rand, auch mit Blick auf den angepeilten Sitz im Bundesrat.
Mehr Andrey statt Glättli? Der Parteipräsident schloss am Wahlabend einen Rücktritt nicht aus. Mit einem Personalwechsel aber wäre es nicht getan. Die Grünen müssen sich klar werden, was sie sein wollen: eine Linksaussen-Protestpartei oder eine politische Kraft, die Verantwortung übernimmt – wie sie das in Gemeinden und Kantonen schon heute tun.