Die Schweiz war lange ein Muster an politischer Stabilität. Im Prinzip ist sie das immer noch, vor allem auf Regierungsebene. Die Parteienlandschaft aber ist volatiler geworden, seit die Grünen vor 40 Jahren als nationale Partei auftauchten und vor allem seit Christoph Blocher die biedere, staatstragende SVP zur rechtspopulistischen Protestpartei umgemodelt hatte.
Dadurch wurde die SVP vom Juniorpartner im Bundesrat zur mit Abstand stärksten Partei des Landes. Ihren Höhepunkt erlebte sie vor acht Jahren, als sie im «Schlepptau» der Migrationskrise bei den nationalen Wahlen beinahe die 30-Prozent-Marke «geknackt» hatte, was seit Einführung der Proporzwahl 1919 noch keiner Partei gelungen ist.
Vier Jahre später waren die Grünen an der Reihe. Bei der «Klimawahl» 2019 legten sie um für hiesige Verhältnisse erdrutschartige sechs Prozent zu. Nun scheint sich das Pendel in die Gegenrichtung zu bewegen. Dies zeigte sich bei den kantonalen Wahlen am Sonntag in Genf, Luzern und im Tessin, den letzten vor den National- und Ständeratswahlen im Oktober.
Dabei steigerte die SVP den Wähleranteil über die Sprachgrenzen hinweg in allen drei Kantonen um mehr als drei Prozent. Umgekehrt verzeichneten die Grünen überall Verluste. Bei der Volkspartei ist der Trend bemerkenswert. Noch zu Jahresbeginn schien sie zu stagnieren oder leicht zuzulegen. Jetzt befindet sie sich auf einem Höhenflug.
Das liegt nicht etwa daran, dass die SVP eine überzeugende Politik macht. Personell und inhaltlich ist sie im Vergleich mit den grossen Zeiten unter Blocher, Ueli Maurer und Toni Brunner schwach aufgestellt. Als typische Protestpartei profitiert sie aber von einer Proteststimmung, die sich in den letzten Wochen in der Schweiz breit gemacht hat.
Die «klassischen» SVP-Kernthemen Asyl und Zuwanderung, die jahrelang kaum noch eine Rolle gespielt hatten, trenden wieder. Damit verbunden ist eine drohende Wohnungsnot (Stichwort Windisch). Eine wichtige Rolle spielt auch die heftige Kritik an der «heiligen Kuh» Neutralität, die gerade vom SVP-Anhang mit Inbrunst gehätschelt wird.
Das Credit-Suisse-Debakel spielt der SVP ebenfalls in die Hände, wenn auch unfreiwillig. Hier zeigt sich der innerparteiliche Konflikt zwischen der neoliberalen «Elite» und einer nationalkonservativen Basis, die Globalisierung und Grosskonzerne skeptisch betrachtet. Und die sich durch den Untergang der CS bestätigt fühlt und mobilisieren lässt.
Die Mobilisierung ist der Schlüssel zum Erfolg oder Misserfolg der SVP. Als Protestpartei ist sie darauf angewiesen, dass die Wählerschaft ihre Liste ins Couvert steckt und dieses in den Briefkasten oder die Urne wirft. Vor vier Jahren haben viele das nicht gemacht. Jetzt sind sie durch die Themenkonjunktur wieder motiviert, der SVP zum Erfolg zu verhelfen.
Der aktuelle Themenmix könnte der SVP «im Herbst ein extrem starkes Wahlergebnis bescheren», meinte der Politologe Lukas Golder vom Institut GFS Bern gegenüber CH Media. Es ist absehbar, dass sie zumindest einen Teil der Verluste von 2019 kompensieren kann. Ob es aber für einen Durchmarsch reichen wird, ist alles andere als sicher.
Das zeigt ein Blick ins Tessin, den bislang einzigen Kanton, in dem den Corona-Skeptikern der Sprung ins Parlament gelungen ist. Ihre Liste HelvEthica holte auf Anhieb zwei Sitze. Dieser Erfolg und die beiden Sitzgewinne der SVP gingen allerdings auf Kosten der Lega, der traditionellen Tessiner Protestpartei. Sie verlor vier Mandate, die Grünen nur eines.
Corona und die anderen Krisen der letzten Jahre haben die Schweizer Parteienlandschaft noch ein Stück unberechenbarer gemacht. Bis zu den Wahlen in viereinhalb Monaten könnten sich neue Dynamiken entwickeln. Der Zorn über den Banken-Deal könnte verraucht sein, und vielleicht zeichnet sich auch im Asylbereich eine Entspannung ab.
Ein sehr heisser und trockener Sommer oder verheerende Unwetter wie vor zwei Jahren in Deutschland könnten wiederum dem Klimathema und den Öko-Parteien Auftrieb verleihen. Den Grünliberalen läuft es ohnehin rund, zumindest in Kantonen mit Aufholpotenzial. Bei SP, FDP und Mitte hingegen dürfte es nicht zu allzu grossen Verschiebungen kommen.
Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass die SVP im Herbst zulegen kann. Der aktuelle deutliche Aufwärtstrend aber könnte eine Momentaufnahme bleiben.