Am 22. Oktober finden die eidgenössischen Wahlen statt. Vor vier Jahren standen sie im Zeichen von Frauen- und Klimastreik. In diesem Jahr dominieren andere Themen: die Rückkehr der Teuerung, der Krieg in der Ukraine und die damit verbundene Energiekrise, die Krankenkassenprämien. Es geht mehr um materielle als um ideelle Werte.
Die Klimakrise ist weiterhin präsent, aber nicht mehr so dominant wie 2019, obwohl sie sich verschärft hat. Bei den letzten Wahlen legten die Grünen – und in ihrem Windschatten die Grünliberalen – für hiesige Verhältnisse fast erdrutschartig zu, sie überholten die damalige CVP. Gleichzeitig stieg der Frauenanteil im Nationalrat auf über 40 Prozent.
Eine ähnliche Dynamik ist 2023 nicht in Sicht. Die unsichere Lage dürfte nach Ansicht von Politexperten die bewahrenden Kräfte stärken. Bis zu den Wahlen aber sind es noch mehr als neun Monate. In dieser Zeit kann einiges passieren. Wir checken den aktuellen Formstand der sechs Parteien, die im Bundeshaus in Fraktionsstärke vertreten sind.
Im SRG/Sotomo-Wahlbarometer vom letzten Oktober gehörte die SVP zu den Gewinnern. Die politische Grosswetterlage spielt ihr in die Karten. Inhaltlich und strukturell aber wirkt die Partei so desorientiert und dysfunktional wie nie seit Beginn ihres Aufstiegs vor 30 Jahren. Selbst Mitglieder bezeichneten sie in der «NZZ am Sonntag» als führungslos.
Marco Chiesa ist als Präsident ein Totalausfall. Der 82-jährige «Übervater» Christoph Blocher ist noch präsent, aber nicht mehr so dominant wie einst. In der Not wird sogar Alt-Bundesrat Ueli Maurer «reaktiviert», der letzte Woche an der Kadertagung in Bad Horn am Bodensee der SVP mit einem fulminanten Referat einheizte und für Begeisterung sorgte.
Programmatisch sucht die Volkspartei fast schon verzweifelt nach zugkräftigen Themen. Ihre Anti-Stadt-Kampagne wurde mit viel Trara lanciert und entpuppte sich als Blindgänger. Stark involviert ist die SVP bei der Volksinitiative zur Halbierung der SRG-Gebühren und bei der Neutralitäts-Initiative. Als Wahlkampfschlager taugen beide Volksbegehren nur bedingt.
Die SVP verfügt über eine treue Wählerbasis von 20+ Prozent, sie ist aber auch abhängig von der Themenkonjunktur. Nun hofft sie auf die «Dauerbrenner» Asyl und Zuwanderung. Ob sie im Wahljahr zünden werden, muss sich zeigen. Sicher ist nur: Wenn die SVP im Oktober zulegt, dann nicht wegen, sondern trotz ihres aktuellen Formstands.
Die Sozialdemokraten sind in gewisser Weise das Gegenstück zur SVP. Programmatisch verfolgen sie eine klare Linie aus Gesellschafts- und Sozialpolitik, und auch strukturell sind sie gut aufgestellt, mit Mattea Meyer und Cédric Wermuth als Co-Präsidium. Der Aargauer ist intellektuell einer der herausragenden Köpfe der Schweizer Politik.
Und trotzdem läuft es der SP harzig. Bei kantonalen Wahlen hat sie in den letzten vier Jahren überwiegend verloren, und auch im Wahlbarometer steht sie auf der Verliererseite. Sie dürfte im Oktober Mühe haben, ihren Wähleranteil zu halten, und auch im Ständerat wird es der SP aufgrund mehrerer Rücktritte schwerfallen, ihren Besitzstand zu verteidigen.
Dabei blickt die SP auf eine vergleichsweise erfolgreiche Legislatur zurück, wie Meyer und Wermuth am Dreikönigs-Apéro betonten. Im Wahljahr setzen sie auf das Thema Kaufkraft, mit dem AHV-Teuerungsausgleich oder der Prämienentlastungs-Initative. Auch mit der Altersvorsorge bewirtschaftet die SP ein Thema, das in der Sorgenliste weit oben steht.
Warum tut sie sich dennoch schwer? Cédric Wermuth verwies darauf, dass die SP häufig in die Defensive gedrängt worden sei. Sie musste Abstimmungskämpfe gegen bürgerliche Steuervorlagen (erfolgreich) oder die AHV 21 (erfolglos) führen. Abwehrarbeit aber ist nicht sexy. Jetzt wolle die SP mehr gestalten, doch das dauere in der Schweiz «etwas länger».
Die Freisinnigen gehörten vor vier Jahren zu den Verlierern. Das hatte auch mit dem rabiaten Kurswechsel in der Klimapolitik der damaligen Präsidentin Petra Gössi zu tun, der von der Basis nur oberflächlich mitgetragen wurde. Jetzt sieht es besser aus. Nachfolger Thierry Burkart hat die FDP stabilisiert und klar rechtsbürgerlich positioniert.
In gewisser Weise knüpft er an das Erfolgsrezept von Philipp Müller an, seinem Vorgänger als Aargauer Ständerat und Vorvorgänger als Parteipräsident. Das scheint sich auszuzahlen: Im SRG-Wahlbarometer lag die FDP nur einen «Wimpernschlag» hinter der SP. Burkarts Ziel, die Sozialdemokraten zu überholen, ist schwierig, aber nicht unmöglich.
Inhaltlich allerdings tun die Freisinnigen wenig dafür. Während Gössi mutige Akzente gesetzt hatte, baut Burkart auf «Klassiker» wie die Wirtschafts- oder Sicherheitspolitik. Bei heiklen Themen wie der Europafrage versteckt er sich hinter Aussenminister Ignazio Cassis. Unter Thierry Burkart ist der Freisinn mehr eine bewahrende als eine gestaltende Partei.
Das könnte zu einem positiven Trend im Wahljahr führen, wobei die FDP auch von der Schwäche der SVP profitiert. Sie könnte einen beträchtlichen Teil der Stimmen «absaugen», die in früheren Zeiten zur Volkspartei abgewandert wären. Gehört die FDP im Oktober zu den Gewinnern, sind auch ihre beiden Sitze im Bundesrat vorerst gesichert.
Man soll sich hohe Ziele setzen. Das dachte sich wohl Grünen-Präsident Balthasar Glättli, als er in der SRF-«Tagesschau» ankündigte: «Wir wollen drittstärkste Partei werden.» Im Wahlbarometer aber liegen sie hinter der Mitte auf Platz 5. Diese Rangierung dürfte näher bei der Realität liegen. Die Grünen werden ihren Wähleranteil kaum halten können.
Er hatte sich 2019 auf der grünen Welle fast verdoppelt. Diese ist nun abgeflaut, doch das ist nur ein Teil des Problems. Den Grünen ist es bis heute nicht wirklich gelungen, das Image einer Ein-Themen-Partei abzuschütteln. Nach wie vor werden sie primär mit der Klima- und Umweltpolitik identifiziert. Daran sind sie zu einem beträchtlichen Teil selber schuld.
Sie schaffen es kaum, eigene Akzente zu setzen. Ihr Stimmverhalten ist weitgehend deckungsgleich mit jenem der SP, wie die «Sonntagszeitung» ermittelt hat. Und «frischer» als die Roten wirken die Grünen, die 2023 ihr 40-jähriges Jubiläum feiern können, je länger desto weniger. In gewisser Weise gehören sie zum Establishment.
Im Prinzip sind sie damit bundesratsreif. Doch hier haben die Grünen ein weiteres Problem. Sie werden nur eine reelle Chance auf einen Sitz haben, wenn sie bereit sind, die SP anzugreifen. Wenn sie sich weiterhin darauf versteifen, den Bürgerlichen – vorzugsweise der FDP – ein Mandat abzujagen, bleiben sie auf absehbare Zeit in der Warteschlaufe.
Mit diesem Namen gab es die Partei vor vier Jahren noch nicht. Sie entstand aus der Fusion der CVP mit der BDP, die 2019 abgestürzt war und keine Perspektive als eigenständige Partei mehr besass. Der Zusammenschluss ging reibungsloser über die Bühne als erwartet, wie Parteipräsident Gerhard Pfister am Dreikönigsgespräch zufrieden resümierte.
Alle Kantonalsektionen haben den Namen «Die Mitte» übernommen, selbst die renitenten Walliser. Bei den kantonalen Wahlen konnte sich die Partei halten oder leicht zulegen. Pfister verwies auf den Befund des Wahlbarometers, wonach die Mitte «mehr Jungwähler als die GLP» habe. Und die Junge Mitte den grössten Mitgliederzuwachs aller Jungparteien.
Im Wahlbarometer kommt die Mitte auf einen Anteil von 13,3 Prozent, leicht weniger als das Fusionsresultat von 13,8 Prozent. Doch diese Zahlen lassen sich kaum vergleichen. Lösungsorientierte Politik sei gefragt, folgerte Pfister, wobei ihm die eigenen Ständeräte in letzter Zeit das Leben schwer gemacht hatten, etwa bei den Prämienverbilligungen.
Insgesamt aber bescheinigte der Zuger Nationalrat seiner Partei einen guten Formstand und so etwas wie Aufbruchstimmung. Ob sie bis in den Oktober trägt, wird sich zeigen, doch schon 2019 konnte die CVP entgegen den Erwartungen als einzige Bundesratspartei ihren Wähleranteil halten. Und der Mitte-Sitz im Bundesrat ist ohnehin nicht gefährdet.
Irgendwie scheinen die Grünliberalen nichts falsch machen zu können. Sie legen in den Kantonen zu, und das Wahlbarometer verheisst ihnen den grössten Zugewinn im Oktober. Nach wie vor funktionieren sie als Projektionsfläche, die eine Rettung der Welt verheisst ohne Verzicht und Lustfeindlichkeit, die man oft mit den Grünen assoziiert.
Im wichtigen Europa-Dossier hat sich die GLP sogar ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet, indem sie sich als einzige Partei für das Rahmenabkommen ausgesprochen hatte und nun eine Neuauflage des EWR propagiert. Mit diesem Gesamtpaket lässt sich bei einer urban-progressiven Klientel punkten, die genug hat vom Links-Rechts-Schema.
Damit ist aber auch das grösste Problem der Grünliberalen angesprochen: Obwohl sie über immer mehr zugkräftige Leute verfügen, haben sie bei Majorzwahlen einen schweren Stand. Denn gerade, weil sie sich zwischen links und rechts positionieren, fällt es ihnen oft schwer, Verbündete zu finden, um Regierungs- oder Ständeratssitze zu erobern.
Unmöglich ist es nicht, wie sich letztes Jahr im ländlich-konservativen Nidwalden zeigte. Im Ständerat aber sind sie seit Jahren nicht mehr vertreten. Jetzt hoffen sie auf Parteipräsident Jürg Grossen in Bern und Fraktionschefin Tiana Angelina Moser in Zürich, doch die Konkurrenz ist stark. Und ohne Ständeräte keine Bundesrats-Perspektive.
Ebenfalls im Parlament vertreten ist die EVP mit drei Sitzen. Sie hat sich der Mitte-Fraktion angeschlossen. EDU und Lega mit je einem Mandat haben bei der SVP angedockt, ebenso der parteilose Schaffhauser Ständerat Thomas Minder. Vielleicht liegt für die Kleinparteien der eine oder andere Sitzgewinn drin. Ihr Einfluss aber wird marginal bleiben.
Ein erster Stimmungstest im Wahljahr ist der 12. Februar, wenn in Baselland und vor allem in Zürich gewählt wird. Eine NZZ-Umfrage zu den Zürcher Wahlen bestätigte grosso modo den Trend des SRG-Wahlbarometers: GLP, Mitte und FDP legen zu, während Grüne, SVP und besonders die SP verlieren. Doch wie gesagt, bis Oktober kann einiges passieren.
Problemlösung für 3000 - 5000 Menschen die sich in Ihrem Körper nicht wohlfühlen, neue Rechtschreibung erfinden oder Veganes Schulessen durchzustieren interessiert einfach die Mitte der Gesellschaft nicht.
Dafür gibts Ortsparteien. In der Stadt Zürich oder Bern hat man sehr gute Lösungen gefunden
Aber ganz bestimmt keine nationales Thema, das ist false balance
Wir haben KK und PK (auch hier ist die SP auf der Verliererstrasse obwohl es DIE Kernkompetenz der SP ist), Europa und Migration als Thema.