Die Grafiken, die in diesen Tagen geteilt werden, beunruhigen: Sie zeigen einen enormen Anstieg von hospitalisierten Kindern im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Mal sind es Daten aus Dänemark, dann aus der Schweiz – sie beziehen sich aber stets auf die jüngste Altersgruppe, sprich: Kleinkindern im Alter bis neun Jahre.
Die Tweets- oder Facebook-Beiträge dazu werden tausendfach geteilt, meist begleitet von wütenden Kommentaren zur Politik, wonach diese nichts zum Schutz der Kinder unternehme. Wie aussagekräftig sind diese Zahlen jedoch?
Schauen wir uns dafür die «blutten» Zahlen an. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) veröffentlicht die Zahlen zu den Neuhospitalisierungen nach Alter aufgeschlüsselt nur im Wochenrhythmus. Und diese bestätigen das, was tausendfach in Twitter-Beiträgen zu Dänemark verbreitet wurde: Es kommen mehr Kleinkinder im Zusammenhang mit dem Coronavirus ins Spital.
Wie watson jedoch bereits vor einigen Tagen in einer Analyse aufgezeigt hat, müssen diese Hospitalisierungsdaten relativiert werden: Nicht jede Spitaleinweisung ist aufgrund der bekannten schweren Covid-Symptome erfolgt. Wir fassen kurz zusammen: Wer wegen eines Beinbruchs ins Spital muss und Corona-positiv ist, braucht auch dann besondere Spitalpflege, auch wenn keine schwere Covid-typische Symptome wie Atemnot oder Herzprobleme vorliegen. Gerade aber bei Kleinkindern zeigen Forschungsdaten auf: Covid trifft die jüngsten von uns allen nicht hart.
Wie sind dann die kritischen Kommentare zur Kleinkinder-Statistik zu deuten? Welche politische Relevanz haben Empörungstweets dazu, die derzeit nicht nur von verängstigten Eltern, sondern auch etwa von der namhaften Virologin Isabella Eckerle geteilt werden? Was hat das mit Omikron zu tun und was könnte die Politik daraus schliessen?
Auch heute morgen wieder zwei Familien im Freundes-/Kollegenkreis mit positiven Kindern & Ansteckung in die Familie. Man nimmt es nur noch achselzuckend hin. 2 Jahre Rücksicht, Homeoffice, Verzicht auf Freunden/Familien & jetzt Durchseuchung an Schulen & Kitas #SARSCoV2 #COVID19
— Isabella Eckerle (@EckerleIsabella) January 27, 2022
Um die Empörung einordnen zu können, braucht es Verständnis über die statistische Prävalenz. Bevor wir uns dazu eine Grafik anschauen, erinnern wir uns an die letzten Erkenntnisse der Wissenschaft dazu. US-Forscherinnen veröffentlichten am 12. Januar 2022 eine Studie, in der rund 80'000 coronainfizierte Kleinkinder im Alter unter fünf Jahren untersucht wurden.
Die Forschungsfrage war: Gibt es einen Unterschied, ob die Kinder von der Omikron- oder Delta-Variante erwischt werden? Die Schlussfolgerung war ein deutliches «Jein» – und zwar im positiven Sinne: Dort, wo Omikron stärker wütete, gab es mildere Erstinfektionen als bei Delta.
Diese Entwicklung bestätigt sich grafisch beinahe auf den Tag genau auch in den Schweizer Daten: In der folgenden Grafik haben wir den Zeitraum ab dem 21. Dezember 2021 grün unterlegt: Ab diesem Tag zeigten repräsentative Sequenzierungsstichproben, dass in der Schweiz die Omikron-Variante dominierte. Die Dominanz verstärkte sich rapide, gut drei Wochen später zeigten über 90 Prozent der Coronaviren-Sequenzierungen die Omikron-Gentypen auf.
Die Omikron-Variante präsentierte seither ihren Vorteil: Sie ist Meisterin in der Weiterverbreitung. Die Fallzahlen stiegen rapide an – Stand gestern auf über 40'000 Neuinfektionen an einem Tag. Davon waren auch die Kleinkinder besonders betroffen: Sie sind seit Schulbeginn Anfang Januar täglich unterwegs, spielen mit anderen Kindern, müssen nicht überall eine Maske tragen und sind vor allem nicht gut durch sichere Eingriffe durch das Vakzin immunisiert. In der Altersgruppe 0–19 Jahren gab es seit Januar den grössen Anstieg der Fallzahlen.
Womit wir bei der Prävalenz wären: In der oberen Grafik zeigen wir mit der gestrichelten Linie das Verhältnis zwischen infizierten und hospitalisierten Kleinkinder. Sie sinkt, so wie es die Omikron-Forschung vermutet. Und das ist das, was bei der epidemiologischen Betrachtung gerne als richtungsweisender Wert herbeigezogen wird: Entwickelt sich die Pandemie gut oder schlecht?
Solche Prävalenz-Werte sind bewährt und werden auch zur Verdeutlichung der Impfwirkung herbeigezogen. Dabei hört man Sätze wie: Ja, es gibt mehr geimpfte als ungeimpfte Personen in den Spitälern, anteilsmässig verursachen Geimpfte dennoch weniger Probleme fürs Gesundheitswesen.
Beim starken Anstieg der Kleinkinder-Hospitalisierungen wird diese Interpretation aber umgedreht: Die sinkende Gefahr von Omikron wird bei der Empörung weggelassen, stattdessen wird jedes weitere Kleinkind im Spital zum Skandal hochgeschrieben. So nach dem Motto: Bei einer schweren Covid-Erkrankung sterben nicht Prozente, sondern Menschen.
In der Konsequenz heisst das: Je mehr Kinder es mit Covid trifft, desto mehr Kinder müssen mit einer Spitaleinweisung rechnen – auch dann, wenn das Risiko einer schweren Erkrankung allmählich wegen Omikron sinkt.
Weil die wöchentlichen Hospitalisierungen – trotz des rapiden Anstiegs auf 44 Kleinkinder in der vergangenen Woche – aber numerisch klein ist, bewegt das auch kaum die Gemüter bei der Taskforce. Sie schrieb dazu diese Woche in ihrem Lagebericht nüchtern: «Die Zahl der Fälle nahm in den Altersgruppen der 0–9, 10–19, 30–39 und 40–49 Jährigen signifikant zu. Mit der Rate von 74% (95% UI: 54–96%) war der Anstieg in den 0–9 Jährigen am stärksten.»
Auch bei der Politik löst der Anstieg noch keine schnellen Reaktionen aus. Der Winterthurer Chefarzt und Taskforce-Wissenschaftler Urs Karrer hoffte zwar vor den Weihnachten, dass Kantone über die Festtage einen besseren Schutz für die Kinder ausarbeiten würden.
Ideen dazu gibts schon lange: Der Kanton Graubünden untersucht etwa seit November, dass Luftqualitätsmesser in Schulzimmern sich positiv aufs Infektionsgeschehen auswirken. Zudem können seit Anfang Jahr auch Kleinkinder geimpft werden – was aber noch nicht rege genutzt wird. All diese Massnahmen sollen das ohnehin kleine Risiko einer schweren Erkrankung noch weiter senken.
Für die Kantone besteht deshalb kein grosser Handlungsdruck. Angesichts der rasanten Verbreitungsgeschwindigkeit und der sehr hohen Positivitätsrate bei Kleinkindern und Teenagern, dürfte sich die eine oder andere Kantonsregierung gefragt haben: Welche Massnahmen sind noch sinnvoll? Die Antwort dazu gibt es schon in einigen Kantonen: Zürich streicht die aufwändigen regelmässigen Pooltests an den Schulen, in Bern fällt die Kontaktquarantäne und im Wallis brauchts in Schulzimmern bald keine Maske.
Ich bin in Gedanken bei jenen, die leider nicht so viel Glück haben.