Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) veröffentlicht an jedem Arbeitstag einen riesigen Datensatz zum Pandemiegeschehen in der Schweiz. Die sechs wichtigsten Werte erklärt.
Eine der bekannten Grössen sind die täglichen Fallzahlen. Am 14. Januar meldete das BAG 32'150 neue laborbestätigte Fälle, die in der Schweiz entdeckt wurden. Diese Zahl wird auch von Medien wie watson verbreitet. Sie zeigt quasi die Anzahl positiver PCR-Tests, die beim Bund seit dem letzten Tag gemeldet wurden.
Diese Präzisierung ist wichtig, weil sie nicht sagt, wie viele laborbestätigte Fälle an einem Tag entdeckt wurden, sondern wie viele gemeldet wurden. Was das heisst, erkennen wir an der folgenden Grafik: 32'150 Fälle sind in oranger Farbe dargestellt. Darin sind auch Fälle enthalten, die mehrere Tage «alt» sind. Wie viele Infektionen tatsächlich am 14. Januar entdeckt wurden, ist erst einige Tage später bekannt, wenn alle Daten beim Bund zusammengekommen sind.
Wird von «Fällen» gesprochen, dann gibt es auch keine Mehrfachmeldungen: Lässt sich eine Person in einer Woche drei mal positiv mit PCR testen, so erscheint sie nur einmal als «Fall». Das BAG erfasst erst ab einem Zeitabstand von 90 Tagen einen neuen positiven Test als Neuansteckung.
Die Meldepflicht ist eigentlich klar: Wer laboranalytisch positiv auf eine Infektion mit Sars-CoV-2 getestet wird, landet innerhalb von zwei Stunden in der Datenbank des Bundes. Negative Testergebnisse müssen innerhalb von 24 Stunden gemeldet werden.
Warum also die grossen Meldeverzögerungen? Diese haben damit zu tun, dass nicht jeder positive Fall als «laborbestätigter Fall» erfasst werden muss. Eine Coronainfektion gilt zwar als meldepflichtige Ansteckung, doch aufgrund der hohen Anzahl der Fälle herrscht derzeit eine differenzierte Meldepflicht.
Nehmen wir dazu einen typischen Fall:
Vereinfacht bedeutet das: Es gibt mehr positive Tests als «laborbestätigte Fälle». Die Zahlen des Bundes bestätigen das.
Das führt auch zu den Melde-Verzögerungen: Wer an Heiligabend ein Schnelltest-Resultat kriegt und es drei Tage später mit einem PCR-Test bestätigt, gilt als «ein laborbestätigter Fall an Heiligabend» und als «positiver PCR-Test am 27. Dezember».
Wenn man von «Hospitalisierung» spricht, dann meint man eine «Spitalbehandlung». Sie kann ein paar Stunden oder Tage dauern, komplikationsfrei oder auf der Intensivstation stattfinden. Vor allem kann sie aber «wegen» oder «mit Corona» passieren, was die Diskussion über die Spitalbelastung zusätzlich angeheizt hat.
Und doch zeigen die Hospitalisierungszahlen etwas Wichtiges auf, wie die «NZZ» jüngst berichtete. Wichtig sind drei Erklärungen:
Die Daten dazu existieren und sie sollen nach Angaben der «NZZ» bald noch genauer werden. Sie dürften aber dasselbe Problem wie die Infektionsdaten haben: Die Zahlen liegen nicht in Echtzeit vor.
Auch hier gibt es viele Nachmeldungen, die schlicht damit zu tun haben, dass in gesundheitlichen Notsituationen die Behandlung der Krankheit wichtiger ist als die korrekte Dokumentation des Falles. Der positive PCR-Test mag dann zwar innerhalb eines Tages als «laborbestätigter Fall» beim Bund gemeldet werden; bis daraus auch eine «Covid-Hospitalisierung» wird, dauert es aber länger.
Politisch gesehen hat die Zahl der Toten nur Aussagekraft, wenn «Covid-Tote» auch an «Covid» starben. Dass das so in den meisten Fällen ist, weiss das Bundesamt für Statistik (BFS): Dort wird zu jeder verstorbenen Person auch die Todesursache verzeichnet. Das BFS kommt zum Schluss: Bei 90 Prozent der Opfer, die dem BAG als «Covid-Tote» gemeldet wurden, wird auf dem Totenschein das Virus als Haupttodesursache genannt.
Warum unter den gemeldeten Toten auch solche auftauchen, die «mit Corona» und nicht «wegen Corona» gestorben sind, zeigt sich beim Meldeverfahren der medizinischen Fachpersonen: Der Tod wird nicht von Beamten, sondern von Ärztinnen und Ärzten festgestellt. Sie nennen die Todesursache auf dem Totenschein und führen weitere Untersuchungen durch. Wird dabei eine Covid-Infektion entdeckt, erfolgt zusätzlich eine Meldung ans BAG.
So verlangen es auch die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Covid-19 gilt als Todesursache, wenn es eine Kausalkette zwischen Tod und Infektion gibt. Ohne diesen Zusammenhang gilt Corona bloss als Begleiterscheinung, wenn ein Verstorbener positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurde.
In der Schweiz führt das dazu, dass jeder laborbestätigte Todesfall zu einem «Covid-Toten» in der Pandemiestatistik erfasst wird. Epidemiologisch hat das seine Gründe: Selbst nach dem Tod kann eine infizierte Person immer noch ansteckend sein. Zudem kann das Contact-Tracing Angehörige informieren, die vor dem Tod noch nahen Kontakt zur verstorbenen Person hatten.
Weil die Zahl der «Covid-Toten» ziemlich gut in die Nähe der tatsächlichen Anzahl von an Covid verstorbenen Personen kommt, eignet sie sich gut als pandemische Grösse. Die Ungenauigkeit wird als Kompromiss hingenommen: Die BAG-Zahlen erfassen auch Todesopfer ohne direkten Zusammenhang mit Corona – dafür sind sie schnell und aktuell verfügbar. Die Daten des Bundesamtes für Statistik sind genauer, benötigen aber wegen mangelhafter Digitalisierung länger, bis sie zur Verfügung stehen.
Schwieriger ist die Deutung der Zahlen zur Spitalkapazität. Das Bundesamt für Gesundheit liefert in seinem Dashboard jeden Tag verschiedene Daten dazu, die gedeutet werden müssen. Zentral für Politik, Personal und eigenverantwortliches Handeln ist die Frage: Wie belastet sind die Spitäler wirklich?
Schauen wir uns dazu die aktuellen Zahlen an: Mehr als Dreiviertel aller Intensivplätze (76,7 Prozent) sind derzeit besetzt. Die Schweiz zählt aktuell total 883 Betten, wovon 206 als «frei» angegeben werden.
Das Problem an diesen Zahlen ist: Sie können im hektischen Intensivmedizin-Alltag nie in Echtzeit aktuell sein. Dort, wo es um Leben und Tod geht, spielen administrative Fragen eine zweitrangige Rolle: Bei Platznot sprechen sich Pfleger und Ärztinnen ad hoc ab, disponieren um, verwenden – wenn möglich – andere Räume. Der Aufenthalt auf der Intensivstation ist zudem unterschiedlich: Er kann wenige Stunden bis mehrere Tage andauern. Kommt es zu Änderungen, muss ein Bett gereinigt und neu bereitgestellt werden. Ein grosses Fragezeichen bei der Kapazitätsberechnung gibt es zudem beim Personal: Wie viele Intensivpflegende können wann arbeiten? Wie geht man damit um, wenn in einem Spital ein oder zwei Pflegende ausfallen oder gar kündigen?
Das führt zu Datenerfassungsproblemen: Die schweizweite Statistik kann ungenau sein, je nach dem, wann die freien Betten gezählt werden. Jedes Spital meldet unterschiedlich häufig die Zahlen an den Kanton, wo sie wiederum nach Bern geschickt werden. Veranschaulichen lässt sich das mit den Zahlen aus Luzern. Dort wurde kurz vor Silvester vor drohender Triage gewarnt.
Wir haben den 29. Dezember in der Grafik gestrichelt eingezeichnet. Die Kurven zeigen die Situation im Kanton Luzern, einmal so, wie es der Kanton selbst darstellt, einmal, wie es die BAG-Webseite zeigt.
Die Grafik zeigt eindrücklich auf, wie unterschiedlich die Zahlen zu den belegten IPS-Betten (blau) mit Covid-Patientinnen allen belegten Betten (violett) mit Covid-Patienten sein kann kann. Einmal wir die Zahl des Kantons, einmal des Bundes dargestellt. Zusätzlich in schwarz zeigen wir, wie viele IPS-Betten mit allen Patienten belegt sind. Solange die im grünen Bereich ist, sind die Kapazitäten nicht komplett ausgeschöpft.
Was sagt uns das? Die publizierten Daten sind nicht die genauesten. Sie widerspiegeln jedoch die angespannte Lage und erklären, wieso der Kanton Luzern kurz vor Silvester vor der Triage warnte. Die IPS-Belastung (schwarz) war konstant nahe der Auslastungsgrenze. Es gab zeitweise nur gerade mal vier freie IPS-Betten. Und das verteilt auf mehrere Spitäler.
Sprich: Kommt es zu einem schweren Unfall mit mehreren Schwerverletzten oder weiteren Hospitalisierungen von Covid-Infizierten in Lebensgefahr, führt das in einem einzelnen Spital zu Triagen oder zu Notfalltransporten in andere Spitäler. Die Abklärungen dazu müssen schnell, telefonisch und unter hohem Druck getätigt werden, weil Echtzeitdaten nicht vorliegen.
Der R-Wert prägte zu Beginn der Pandemie die Zahlendebatte: Gemeint ist die Reproduktionszahl des Coronavirus, die aussagen soll, wie viele Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt. Grob gesagt ist ein Wert über 1,0 schlecht, weil er auf eine starke Verbreitung des Virus deutet.
Der R-Wert kann dabei nicht auf die Kommazahl genau «berechnet» werden: Er wird anhand von mehreren Faktoren geschätzt und sollte das Infektionsgeschehen schweizweit von vor 10–13 Tagen abbilden. Dabei gilt: Je weiter wir in die Vergangenheit schauen, desto genauer sollte die Schätzung sein. Es gehört also zur Berechnungsmethode des R-Werts dazu, dass er «nachträglich korrigiert» wird.
watson hat sich diese Korrekturen seit Sommer 2021 angeschaut: Jede Linie zeigt, wie der R-Wert zuvor geschätzt wurde. Die dicke, ausgezogene Linie stellt den aktuellsten Stand dar.
Die vorliegenden Daten zeigen zwei Punkte:
Paedu87
Somchai
Green Eyes
Dankeschön.