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Streamen verboten: Wie der Bund uns zum Stromsparen «erzieht»

ARCHIV - 14.09.2021, Hamburg: Zuschauer sitzen vor einem Fernseher und schauen sich das Streaming-Angebot ihrer Abonnements an. (zu dpa "Streaming kompakt") Foto: Daniel Reinhardt/dpa +++ dp ...
Streaming gibt es bei Stromknappheit nur noch in Standard-Auflösung oder gar nicht.Bild: DPA
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Streamen verboten: Wie der Bund uns zum Stromsparen «erzieht»

Der Bund fürchtet, dass uns im Winter der Strom ausgeht. Also sollen wir sparen, sparen, sparen. Und zwar bis aufs Grad Celsius genau, wenn es ernst gilt. Geht es nicht anders?
26.11.2022, 09:5127.11.2022, 09:15
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Das Leben war auch schon einfacher. Man hat gerade das Gefühl, wir hangeln uns von einer Krise zur nächsten. Das zeigt sich auch im jährlichen Sorgenbarometer der Credit Suisse (ein Krisenfall für sich). In den letzten beiden Jahren war die Covid-Pandemie nicht überraschend an der Spitze. 2022 ist sie unter «ferner liefen» abgerutscht.

Covid ist nicht vorbei, aber das Virus (oder seine kaum überschaubaren Mutationen) hat für die Schweizer Bevölkerung seinen Schrecken verloren. Dafür ist ein anderer Newcomer weit oben in den Sorgen-Charts eingestiegen. Hinter den beiden «Dauerbrennern» Umwelt/Klima und Altersvorsorge hat es das Thema Energie aufs Treppchen geschafft.

Bundesrat Guy Parmelin diskutiert mit Journalisten, am Ende einer Medienkonferenz des Bundesrates zu den Massnahmen in einer Strommangellage, am Mittwoch, 23. November 2022 in Bern. (KEYSTONE/Peter Kl ...
Guy Parmelin präsentierte am Mittwoch die Massnahmen in einer Strommangellage.Bild: keystone

An sich waren wir ja gewarnt. 2014 fand eine Sicherheitsübung des Bundes statt, die auf zwei drohenden Risiken basierte: Pandemie und Strommangellage. Passiert danach ist wenig. Warum auch? Pandemien kannten wir nur aus der Vergangenheit. Und Energie war mehr oder weniger im Überfluss vorhanden und erst noch billig. Wo also lag das Problem?

Von Importen abhängig

Wir wissen es inzwischen besser. Corona hat unser Leben zeitweise auf den Kopf gestellt, und seit Wladimir Putin am Gashahn Richtung Westen schräubelt, ist in Europa die Panik vor einem kalten Winter ausgebrochen. Zuletzt hat sich die Lage entspannt. Dank neuer Lieferanten sind die Gasspeicher voll. Die übelsten Szenarien dürften nicht eintreten.

Ob das auch für die Schweiz gilt? Wir sind beim Gas permanent und beim Strom im Winter von Importen abhängig. Das macht uns verwundbar. Also hat der Bund schon im Sommer Massnahmenpläne für eine Gas- und Strommangellage angekündigt. Jetzt liegen sie vor, reichlich spät, denn die kalte Jahreszeit und damit die Heizsaison hat längst begonnen.

«Steilpass für Freiheitstrychler»

Letzte Woche präsentierte Landesversorgungsminister Guy Parmelin den Gas-Notfallplan, nun folgte jener für den Fall eines Strommangels. Was am Mittwoch vorgelegt wurde, ist ein Fest für Faktenhuber, Erbsenzähler, Paragrafenreiter und Möchtegern-Denunzianten. Uns wird quasi bis aufs Grad Celsius genau vorgeschrieben, was wir wann zu tun haben.

Die Reaktionen blieben nicht aus. So schimpfte die NZZ über das «Mikromanagement à la Corona». Für Tamedia ist der Verbotskatalog «geradezu ein Steilpass für Freiheitstrychler, Libertäre und Anarchistinnen». Wiederholt sich die Geschichte? Werden Nicolas Rimoldi und Co. bald gegen das Wäschewaschen bei maximal 40 °C auf die Strasse gehen?

Temperatur-Wirrwarr

Eher nein. Bund und Kantone beschwichtigen, man könne die Einhaltung der Vorschriften in den Haushalten ohnehin nicht überprüfen. Die Strompolizei wird kaum vorbeikommen. Die soziale Kontrolle soll es laut Parmelin richten. Das wird schwierig genug, denn die Vorschriften sind nicht nur ausufernd und verwirrend, sondern auch widersprüchlich.

So dürfen mit Gas beheizte Innenräume maximal 20 Grad warm werden. Dieser Wert sei leichter zu messen und zu regeln als die ursprünglich geplanten 19 Grad, sagte Parmelin letzte Woche. Für Wohnungen mit Elektroheizung oder Wärmepumpe gilt das nicht mehr. Sie dürfen nur auf 18 Grad erwärmt werden (wenn auch erst in «Eskalationsschritt 3»).

Sparen oder nicht sparen?

Wer jedoch eine klimaschädliche Ölheizung betreibt, darf seine Wohnräume in ein Treibhaus verwandeln. Denn Öl hat es genug, deshalb gibt es keine Einschränkungen. Dafür gilt auf Autobahnen für Elektro- und Benzinautos gleichermassen ein Tempolimit von 100 km/h. Damit werde Mineralöl eingespart, heisst es im Q&A des Bundes.

In Heizungen darf unbegrenzt Öl verfeuert werden, aber im Verkehr soll man sparen?

THEMENBILD ZUR LENKUNGSABGABE AUF ENERGIE --- A Zehnder radiator with a Danfoss valve and thermostat in an apartment, pictured in Rigi Kloesterli, Switzerland on January 18, 2015. (KEYSTONE/Gaetan Bal ...
Gas, Öl oder Strom? Je nach Heizart darf die Wohnung unterschiedlich warm werden.Bild: KEYSTONE

Es kann sein, dass der Bund den wahren Grund nicht nennen will: E-Mobile sollen auf der Autobahn nicht als «Schnecken» herumkurven und die Benzin- und Dieselfuhrwerke behindern. Und Blitzkästen nur für Elektroautos hat noch niemand erfunden. Kann man nachvollziehen, aber es macht den Massnahmenkatalog nicht weniger widersprüchlich.

Volkserziehung via Netflix

Den Grund, warum Privaten der Stromverbrauch im Mikromanagement verordnet wird, nennt die NZZ: In der zuständigen Arbeitsgruppe des Bundesamts für Wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) hatten die Haushalte keine Lobby. Deshalb werden sie mit Verboten eingedeckt, während Unternehmen und Tourismus Ausnahmeregeln erkämpften.

Ein namentlich nicht genannter Teilnehmer der Arbeitsgruppe meinte, es sei gut, dass die Bevölkerung jetzt über Laubbläser und Netflix-Verbote rede. So werde ein potenzieller Strommangel wieder thematisiert. Dahinter verbirgt sich die Angst, dass die von grossen Katastrophen verschonten Sorglos-Schweizer das Problem auf die leichte Schulter nehmen.

Die einfachste Message

Unbegründet ist sie nicht. Während etwa die Deutschen fleissig Energie sparen (auch wegen der hohen Preise), ist in der Schweiz der Stromverbrauch im September entgegen ersten Meldungen kaum gesunken. Vielleicht war es dafür noch nicht kalt genug, aber wirklich überrascht ist man nicht. Ein wenig «Aufrütteln» kann da wohl nicht schaden.

Eine Frau faehrt auf ihrem Rad neben einem Plakat "Bleiben Sie zu Hause. Bitte. Alle." um den abgesperrten Bereich am Katzensee, aufgenommen am Freitag, 3. April 2020 in Zuerich.(KEYSTONE/En ...
Eine Botschaft, die verständlich war.Bild: KEYSTONE

Bevor wir Netflix nur noch in Standard-Auflösung (Eskalationsschritt 2) oder überhaupt nicht mehr (Eskalationsschritt 3) schauen, sollte man sich dennoch fragen, ob es nicht anders geht. Die einfachste und erfolgreichste Message während Corona war: «Bleiben Sie zu Hause!» Sie hat mehr bewirkt als der behördlich verordnete Abstand zwischen Restaurant-Tischen.

Ende Winter wird es knapp

In der Energiekrise ist sie noch simpler: Sparen, sparen, sparen. Genau mit diesen Worten hat Guy Parmelin am Mittwoch die Medienkonferenz eröffnet. Denn auch mit Blick auf die langfristigen Bedürfnisse (Energiewende!) müssen wir vom verschwenderischen Umgang mit Strom und ganz besonders mit fossilen Energiequellen wie Öl und Gas wegkommen.

Im jetzigen Winter könnten wir mit dem Schrecken davonkommen. Ernst wird es eventuell Ende Februar/Anfang März, erzählte kürzlich ein ranghoher Kantonsvertreter. Je nach Füllstand der Gasspeicher in Europa könnte es in Schweizer Wohnungen kühl werden. In diesem Fall dürften Elektro-Öfeli in Betrieb genommen und Backofentüren geöffnet werden.

Die Folgen kann man sich ausmalen: Es kommt zu Netzüberlastungen und grossflächigen Stromausfällen, auch wenn eigentlich genug Elektrizität vorhanden wäre. In einem solchen Fall helfen Netflix in Standard-Auflösung und Waschen bei 40 Grad auch nicht mehr.

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293 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gustav.s
26.11.2022 10:03registriert September 2015
Wieso wird immer über Netflix geredet? Es geht ums Streaming. Das gesamte Swisscom TV und auch von Sunrise usw ist Streaming.
Ob da jetzt Netflix, sky oder Sat1 HD über die Leitung geht, braucht wohl kaum weniger Strom. Die stellen euch alles ab.
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UrSchweizer
26.11.2022 10:04registriert Juni 2020
Ich glaub wir sind in einer Matrix…die soziale Kontrolle soll es regeln. Gab es dafür früher nicht einen anderen Namen?
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DrQuack
26.11.2022 10:52registriert November 2020
Herr und Frau Schweizer sollen frieren, aber Schneekanonen, Skilifte und beheizte Hotelpools dürfen weiterhin betrieben werden. Schaufenster und Leuchtreklamen sind weiterhin beleuchtet. Die Industrie dampft fröhlich weiter vor sich hin.
Es scheint, solange man keine Lobby hat, hat man in der Schweiz nichts zu sagen.
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