Die Wissenschaft hat präzise vor Omikron gewarnt – und so reagierte die Politik
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gab am Montag nach den Festtagen bekannt, dass in der Schweiz seit Heiligabend 36'261 Infektionen mit dem Coronavirus gemeldet wurden. Die genaue Sequenzierung der Viren ist zwar noch nicht da, erste Zahlen aus dem Kanton Genf erlauben aber den Schluss: Die Covid-19-Variante Omikron ist da und sie wütet.
Forscherinnen und Forscher haben davor gewarnt. Auf den Tag genau vor einer Woche veröffentlichte die wissenschaftliche Schweizer Taskforce des Bundes einen Situationsbericht, in dem Szenarien für die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester modelliert wurden. Wir lesen darin:
- «Die Häufigkeit von Omikron hat sich seit dem Auftreten um das 2- bis 3-Fache pro Woche erhöht. Wir rechnen daher damit, dass diese Variante zum Jahreswechsel das Infektionsgeschehen dominieren wird.»
- «In diesem Szenario [Anmerkung: siehe Grafik unten] wird erwartet, dass die Fallzahlen noch vor Jahresende ein zwischenzeitliches Minimum erreichen und wieder anfangen zu steigen. Weiter sind in diesem Szenario Fallzahlen von über 20’000 pro Tag in der zweiten Januarwoche plausibel.»
- «Somit sind dritte Impfungen ein weiteres effektives Werkzeug, um den Anstieg der Fallzahlen zu bremsen. […] Soll die Ausbreitung von Omikron mit Hilfe der dritten Dosis gebremst werden, braucht es rasch dritte Impfungen in der breiten Bevölkerung.»
Im Bericht wurde zudem folgende Modellrechnung für die kommenden Tage veröffentlicht. In schwarzer Farbe ist zudem weiter unten der 7-Tage-Schnitt der Schweizer Fallzahlen ersichtlich.
Das war vor sieben Tagen.
Die Zahlen
Heute zeigt sich, dass der wissenschaftliche Beirat des Bundes einmal mehr Recht behalten hat: Die Zahlen steigen nach einem leichten Knick wieder an. Das dürfte sicher auch mit den vermehrten Tests kurz vor den Festtagen zu tun haben: Viele Menschen wollten sich vor Weihnachten testen lassen, um gewisse Sicherheit am Familienfest zu schaffen.
Der Anstieg der Positivitätsrate in einigen Kantonen deutet aber darauf hin, dass die neue Infektionswelle auch mit einer stärkeren Zirkulation des Virus zu tun hat. Erste Sequenzierungsdaten aus dem Kanton Genf zeigen auf, dass der Omikron-Anteil zwischen 68 und 78 Prozent geschätzt wird. Schweizweite Daten sprechen von einem Anteil von knapp über 50 Prozent. Tendenz steigend, so wie es in den Tagen davor warnend wissenschaftlich modelliert wurde.
Booster-Fail
Die Empfehlung der Wissenschaft war eindeutig:
Die Behörden zögerten aber Mitte Dezember und legten boosterwilligen Menschen gar Steine in den Weg. Wir erinnern uns, wie der Kanton Zürich zunächst Auffrischimpfungen entgegen der Impfempfehlung bereits fünf Monate nach der Zweitimpfung verabreichte – um dann bürokratisch diese wieder zu stoppen.
Der Bundesrat machte den Kantonen Beine, indem er die Zertifikatspflicht für gewisse Bereiche – darunter Bars und Hallenbäder – verschärfte, womit nur noch frisch Geimpfte oder Auffrischgeimpfte hineindurften. Einige Kantone liessen sich aber von der Landesregierung nicht stressen: Sie warteten am 17. Dezember darauf, dass nach dem bundesrätlichen Entscheid auch die Impfempfehlung der Impfkommission aktualisiert wurde. Das hatte zur Folge, dass just vor den Festtagen wichtige Tage zur erneuten Durchimpfung der Bevölkerung verloren gingen.
Stumme Behörden und Politik
Steigen die Fallzahlen, so wie es die Modelle der Taskforce vermuten lassen, müssen auch mehr Leute ins Spital.
Die Politik lässt sich von dieser Warnung nicht einschüchtern. Bundespräsident Guy Parmelin und BAG-Kader Patrick Mathys anerkannten zwar beide, dass die Schweiz punkto Boosterimpfung spät dran ist. Massnahmen dazu oder weitere Einschränkungen stellen sie aber nicht in Aussicht.
Die Grünen-Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber plädierte gar dafür, «nicht zu hypern» – das sei kontraproduktiv. Man müsse die Lage beobachten und Ruhe bewahren. Bundesrat und Gesundheitsminister Alain Berset gab über die Festtage keine Interviews.
Kommunikationspannen
Und Impfchef Christoph Berger? Der sorgte für negative Schlagzeilen, als er in einem kritischen und bissigen Gespräch mit dem Radiomoderator Roger Schawinski genervt das Telefon auflegte.
Es war im Übrigen nicht die einzige Kommunikationspanne der Bundesbehörden kurz vor Weihnachten. Eine zweite gab es in der «Rundschau», als sich BAG-Kader Patrick Mathys zum Massengeschäft mit gefälschten Impfzertifikaten äussern sollte. Wir erinnern uns: In mehreren Kantonen wurden Fälle entdeckt, bei denen wohl über 10'000 Covid-Zertifikate an ungeimpfte und ungetestete Personen verkauft oder verschenkt worden waren.
Mathys verurteilte zwar die Fälschungen, im gleichen Atemzug sagte er aber, dass die gefälschten Zertifikate auf die Entwicklung der Pandemie «keinerlei Einfluss» hätten. Die Aussage steht im Widerspruch zum realen theoretischen Risiko, dass eine Einzelperson mit einem gekauften Zertifikat zum Superspreader in einem Club wird.
Bleibt noch ein dritter Punkt: Das BAG entschied sich in einer kritischen Situation, zwischen Weihnachten und Neujahr sechs Tage lang keine Corona-Zahlen zu veröffentlichen – und damit einen Blindflug zumindest der breiten Öffentlichkeit in Kauf zu nehmen. Den Mitarbeitenden beim BAG mag zwar die ruhigere Zeit gegönnt werden: Wenn aber gleichzeitig Kantone wie Genf oder Tessin auch an Feiertagen Zahlen zum pandemischen Geschehen publizieren und Pflegende in den Spitälern Überstunden leisten, dann kann eine solche Arbeitsmoral bloss als Hohn verstanden werden.*
Und nun?
Erinnern wir uns kurz daran zurück, was epidemiologisch für die nächsten Tage gilt:
- Die neusten Einschränkungen des Bundes gelten bis zum 24. Januar 2022. Dazu gehören eine verschärfte Zertifikatspflicht (2G beziehungsweise 2G+), eine Homeoffice-Pflicht und eine Maskenpflicht ab der Sekundarstufe II (Gymnasien und Co.).
- Die nächste Bundesratssitzung ist für den 12. Januar geplant. Die Landesregierung kann jedoch auch früher tagen, falls dies die epidemiologische Lage erfordert.
- Die Auffrischimpfung wird mittlerweile überall bereits vier Monate nach der Zweitimpfung verabreicht. Gemäss Daten des Bundes kam es aber bislang noch nicht zu einem Ansturm auf die Impfzentren.
Müssen wir uns Sorgen machen? Wir konnten dazu mit den beiden Epidemiologen Christian Althaus und Marcel Salathé sprechen. Ihre Stellungnahmen lesen sich gleichzeitig beruhigend und beunruhigend.
Salathé erinnert daran, dass Omikron nach aktuellem Kenntnisstand etwas mildere Symptome verursacht. Grund dafür ist laut dem Bericht der Taskforce: «Diese Variante ist genetisch am engsten verwandt mit den Varianten, die im ersten Halbjahr 2020 zirkulierten – und ist nicht aus einer anderen besorgniserregenden Variante entstanden.» Die Mutation sei aber eine «Meisterin der Ansteckung».
Das bereitet auch dem Epidemiologen Althaus Sorgen. Er schielt in seinem Statement auf den Bundesrat: Sollte sich die Modellrechnung bewahrheiten, brauche es neue Massnahmen.
* Bei diesem Absatz wurde nach der Publikation eine Korrektur vorgenommen. Die Daten zum pandemischen Geschehen liegen den Verantwortlichen auch an Wochenenden und Feiertagen vor. Sie werden nur nicht veröffentlicht.
