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Bauarbeiter kurz vor Pension gekündigt – das sind seine Gedanken

Antonio kam in den 80er-Jahren in die Schweiz, um als Bauarbeiter sein Geld zu verdienen. (Symbolbild)
Antonio kam in den 80er-Jahren in die Schweiz, um als Bauarbeiter sein Geld zu verdienen. (Symbolbild)Bild: Shutterstock

Antonio* schuftete 30 Jahre als Bauarbeiter – ein Jahr vor der Pension kam der Hammer

Antonio kam während der 80er-Jahre von Süditalien in die Schweiz und arbeitete drei Jahrzehnte lang als Bauarbeiter. Jetzt wurde er kurz vor der Pension entlassen. Nico Lutz von der Unia sagt: «Antonio ist kein Einzelfall.»
09.02.2023, 05:2518.12.2023, 16:06
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Als Antonio* mir die Haustüre öffnet, trägt er Jeans-Shorts und ein verwaschenes T-Shirt. Und das im Februar. Draussen liegt Schnee.

Doch warum sollte er sich etwas Wärmeres anziehen? Seit ihm gekündigt wurde, gehe er nicht mehr oft an die frische Luft, sagt Antonio. Heute sei er auch nicht draussen gewesen. Er lächelt mich müde an, wirkt abgekämpft. Als ich ihn frage, wie es ihm geht, kann er nicht mehr gekünstelt lächeln und sagt: «Es geht mir nicht gut. Ich bin erschöpft.»

Wir setzen uns an den Tisch. Im Hintergrund läuft Antonios Lieblingssendung «Home Rescue – Wohnen in der Wildnis», seine Tochter Emilia* schmunzelt: «Papa träumt davon, irgendwann in Alaska einen Lachs zu fangen.»

Antonio hat momentan viel Zeit, um fernzusehen, denn er erhielt im Herbst seine Kündigung – im Alter von 58 Jahren, rund eineinhalb Jahre vor seiner Pension. «Davor hat er sich über 30 Jahre lang auf der Baustelle kaputt geschuftet, bei seinem letzten Arbeitgeber war er rund 15 Jahre angestellt», sagt seine Tochter.

Sein Körper ist wortwörtlich kaputt: Seine «Lüfte», wie er seine Hüfte nennt, schmerze, er habe mehrere Bandscheibenvorfälle gehabt, die Knie seien auch schon operiert worden. Dazu komme eine rheumaähnliche Krankheit, die bei ihm Schmerzschübe auslöse. Was genau er habe, wisse er noch nicht, so Antonio.

«Ich bin eine tüchtige Person, ich habe mich nur im äussersten Notfall krankschreiben lassen.»
Antonio

Wegen dieser Schübe konnte er im Herbst rund drei Wochen nicht arbeiten. Seine Tochter erklärt: «Davor hat er extrem viele Schmerzmittel eingeworfen und ist trotzdem zur Arbeit gegangen, doch irgendwann ging es nicht mehr, er hatte zu starke Schmerzen.» Antonio ergänzt: «Ich bin eine tüchtige Person, ich habe mich nur im äussersten Notfall krankschreiben lassen.»

«Mein Herz und mein Kopf tun weh»

Als er nach der Krankschreibung wieder ins Geschäft gekommen sei, habe der Chef Antonio gefragt, ob er wieder gesund sei. Antonio habe bejaht. «Ich wollte wieder voll mitanpacken. Ich wusste, dass ich leisten muss. Eigentlich ging es mir körperlich noch immer nicht gut», so Antonio. Sein Chef habe daraufhin gesagt, dass er genug habe von Antonio und liess ihn seine Kündigung unterschreiben. Mit seiner Unterschrift bestätigte er, dass er zum Kündigungszeitpunkt voll arbeitsfähig war, denn dies war so in der Kündigung vermerkt.

Dass er die Kündigung eigentlich nicht hätte unterzeichnen müssen, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Darüber wurde seine Tochter erst später von der Unia informiert: «Wir verstehen beide nicht viel von Arbeiterschutz und Arbeitsrecht. Wir wehrten uns im ersten Moment nicht. Und als wir dann erfahren haben, dass Papa das nicht hätte unterzeichnen müssen, war es zu spät.»

«Ich bin körperlich schon lange krank, aber ich wollte immer arbeiten. Jetzt bin ich nicht nur krank, sondern mein Herz tut auch weh.»
Antonio

Die Kündigung brachte Antonio psychisch und physisch zum Fall. «Meine Schmerzen werden von Tag zu Tag schlimmer. Morgen bekomme ich eine Spritze in den Rücken. Davor habe ich Angst», so Antonio. Aktuell sei er zwar noch angestellt, weil er eine sechsmonatige Kündigungsfrist habe, aber er könne wegen seiner Schmerzen nicht arbeiten.

Antonio sagt: «Ich bin körperlich schon lange krank, aber ich wollte immer arbeiten. Jetzt bin ich nicht nur krank, sondern mein Herz tut auch weh.» Er ergänzt: «Manchmal wache ich in der Nacht auf und meine Frau fragt mich, was ich habe. Dann sage ich ihr, dass ich wieder Rückenschmerzen habe. Aber das stimmt nicht. Mein Herz tut weh und mein Kopf tut weh, denn da drin sind tausend Gedanken.»

Er habe zudem begonnen, viel Alkohol zu trinken, so könne er für ein paar Stunden vergessen. Antonio ist selbstkritisch: «Ich weiss, dass das auch nicht der richtige Weg ist. Nur so wird es still in meinem Kopf. Was soll ich anderes machen?»

Der Traum von den Olivenbäumen

Antonio hatte niemals vor, in der Schweiz zu bleiben. Heimisch fühlte er sich hier nie. Er hatte geplant, nach der Pension wieder nach Süditalien zu gehen. Zurück zu den Olivenbäumen und den Zypressen: «Dort habe ich einen schönen, grossen Garten. Der hier in der Schweiz ist mir zu klein.»

Der Plan steht also. Ich frage, wie das aussehe mit der Pensionskasse, ob da jetzt viel Geld verloren gehe. Antonio kann die Frage nicht beantworten.

Emilia beginnt zu weinen.

«Ich kann es nicht sagen. Ich weiss es nicht. Es sind gefühlt tausend Stellen, die wir noch abtelefonieren müssen. Wir haben überhaupt keinen Überblick», sagt sie. Emilia ist müde, sie arbeitet viel und studiert Teilzeit. In den wenigen freien Minuten, die sie hat, müsse sie Papierkram für ihren Vater erledigen oder ihn zu Arztterminen fahren. Hinzu kämen noch die Arzttermine ihrer Mutter, denn diese hat ebenfalls mit verschiedenen Erkrankungen zu kämpfen.

Emilia ist wütend: «Papa war es, der als Einziger immer um drei Uhr morgens ans Telefon gegangen ist und ins Nachbardorf fuhr wegen eines Wasserrohrbruchs. Er war auch der, der die Strassen pflügte jeden Morgen um fünf Uhr, wenn’s geschneit hat. Und jetzt entwürdigt man ihn dermassen nach jahrelanger Hingabe.»

Antonio ist kein Einzelfall

Nico Lutz, Sektorleiter Bau der Gewerkschaft Unia, sagt: «Antonio ist einer von vielen. Die Zahl der temporär beschäftigten Bauarbeiter hat zugenommen, der Anstieg ist besonders ausgeprägt bei den Älteren, also bei den über 50-Jährigen.» Er erklärt: «Diesen Leuten wird gekündigt, sie sind danach quasi gezwungen, temporär zu arbeiten. Sie müssen massive Lohneinbussen in Kauf nehmen.»

Bauarbeiter und Nico Lutz, Mitglied der Geschaeftsleitung und Bau-Verantwortlicher Unia, 2. rechts, Vania Alleva, Praesidentin Unia, rechts, protestieren gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingun ...
Hier protestieren Bauarbeiter und Nico Lutz (rechts, mit Unia-Jacke) gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.Bild: keystone

Lutz sagt: «Leider darf Antonios Chef ihm kündigen. Sogar mit einer Begründung, dass er in der Vergangenheit zu oft krank war. Aber es ist eine Sauerei, besonders gegenüber einem langjährigen Mitarbeiter.» Er ergänzt: «Wenn Antonio aber zum Zeitpunkt der Kündigung gesundheitliche Probleme hatte, hätte er nie unterschrieben sollen, dass er voll arbeitsfähig war.»

Arbeiterinnen und Arbeiter könnten sich in solchen Momenten, in denen sie sich nicht fair behandelt fühlen oder unsicher sind, an die Gewerkschaften wenden. Diese würden sie rechtlich beraten und ihnen verschiedene Vorgehensweisen erklären, so Lutz.

Wenn Antonio früher gekündigt worden wäre, hätte er seinen Anspruch auf die Frührente verloren, Bauarbeiter können nämlich seit 2003 bereits mit 60 Jahren in die Pension, erklärt Lutz weiter.

Das ist laut Lutz ein riesiger Fortschritt: «Dafür haben die Bauarbeiter gemeinsam mit der Gewerkschaft hart gekämpft. Es war wichtig, dass wir die Arbeits- und Pensionsbedingungen für die Bauarbeiter ändern, denn nur 20 Prozent von ihnen waren noch gesund, als sie erst mit 65 Jahren in die Pension konnten. 80 Prozent der Bauarbeiter mussten vorher den Beruf verlassen und waren im Rentenalter invalide oder tot.»

Antonio hatte gemäss Lutz Glück im Unglück, weil er gerade noch die Bedingungen erfüllt, um mit 60 Jahren eine Frührente zu bekommen. In den letzten sieben Jahre vor der Rente werden auch maximal zwei Jahre Arbeitslosigkeit akzeptiert, die Rente wird dann allerdings leicht reduziert.

«Ich überweise Papa monatlich 300 Franken»

Doch Antonios finanzielle Situation ist prekär, da sind auch kleine Einbussen einschneidend. Er ist krankgeschrieben und erhält nur 90 Prozent seines Lohns. Normalerweise verdient er netto 4400 Franken, aktuell sind es entsprechend weniger, rund 4000 Franken. Das muss für Antonio und seine Frau reichen.

Zwei Kostenpunkte seien immer fix: 1000 Franken für die Krankenkassenprämien von Antonio und seiner Frau und 1500 Franken für die Wohnungsmiete. Dazu kämen Benzin, Telefon, Internet und natürlich Essenskosten. «Etwas auf die Seite zu legen, war schon früher schwierig. Heute ist es unmöglich», so Antonio.

Als wir nur zu zweit sind, sagt mir Emilia: «Ich bin am Studieren, ich habe selbst nicht viel Geld. Aber ich überweise Papa jeden Monat 300 Franken. Er weiss das nicht, er würde nie freiwillig Geld von mir annehmen.» Sie lächelt. «Er versteht nicht viel von E-Banking. Manchmal bemerkt er, dass er doch mehr Geld hat. Dann sage ich ihm, dass die Versicherung wohl etwas zurückgezahlt hat.»

*Namen von der Redaktion geändert.

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387 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MRDL
09.02.2023 06:25registriert August 2020
Ein Armutszeugniss sondergleichen, dass jemand kurz vor seiner Pensionierung netto nicht mal 4.5k erhält und ihn sein A-Loch von Chef so behandelt.

Wie fleissig und zuverlässig du bist interessiert die meisten Firmen einen Dreck, wir sind alle ersetzbar...
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WatsonLeser
09.02.2023 06:21registriert November 2014
seine Tochter hat er jedenfalls gut erzogen! Heldin!
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Schneider Alex
09.02.2023 06:00registriert Februar 2014
Genau für solche Fälle sind die Gewerkschaften die richtigen Ansprechpartner!
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