Im Jahr 2022 gab Bundesrat Ignazio Cassis den privaten Schweizer Medien 30 Interviews. Er sprach mit der NZZ, dem «Tages-Anzeiger», dem «Blick», mit CH Media, «Le Temps», dem «Corriere del Ticino» und anderen mehr. 2023 ging es so weiter - bis am 5. Juni. Cassis redete mit dem «Boten der Urschweiz» über seine Beziehung zur Zentralschweiz.
Es war das bisher letzte Interview des Aussenministers mit einer Zeitung. Seit über einem Jahr hat sich Cassis mit keiner Redaktion eines privat geführten Medienhauses mehr eingehend unterhalten.
Das ist ungewöhnlich für einen Bundesrat. Die Magistraten erklären ihre Positionen normalerweise gerne in den Medien. Oder sie versuchen, ein neues Thema zu lancieren. Ignazio Cassis hingegen schweigt - auch wenn seine Dossiers auf Interesse stossen. Die Europapolitik zum Beispiel.
Auch die Bürgenstock-Konferenz vom vergangenen Juni wurde von den Schweizer Medien breit und mehrheitlich wohlwollend abgehandelt. Interviews zur aufwendigen Veranstaltung gab Ignazio Cassis aber keine.
Eine Ausnahme macht er einzig für die Sender der SRG: Der Aussenminister redet gelegentlich in der «Samstagsrundschau» des Schweizer Radios und im «Rundschau Talk» des Fernsehens.
Warum meidet Cassis seit über einem Jahr die privaten Medien? Im September 2023 trat er an einer Wahlkampfveranstaltung der FDP im Tessin auf. Cassis erklärte, man müsse in der Schweiz auch Dinge sagen, die nicht gefielen - und man dürfe sich dabei von einem «articolo cretino», einem blödsinnigen Artikel, nicht einschüchtern lassen.
«Ich lese keine Zeitungen mehr», fuhr Cassis fort. Sie seien nicht gut für ihn. «Sie helfen mir nicht, die Energie zu finden, um die richtigen Dinge zu tun.» Die Medienschelte des Bundesrates war widersprüchlich: Er sagte einerseits, dass man sich von Zeitungstexten nicht zermürben lassen dürfe. Anderseits meinte er, dass die Zeitungen nicht gut für ihn seien. Kritische Artikel scheinen den Aussenminister also beschäftigt zu haben.
Jedenfalls führt Cassis seit jenem Tadel keine Interviews mit der Presse mehr. In Bundesbern hört man, dass ein Text der NZZ zu diesem Entscheid beigetragen habe.
Am 13. Mai 2023 erschien ein Porträt des Aussenministers. Der NZZ-Reporter begleitete Cassis an Auftritte. Vernichtend war die Kritik nicht. Der Journalist schrieb, dass Cassis bereit sei für den «grossen Coup» - den er aber nie erreiche. Der Tessiner Bundesrat wird ausserdem als empfänglich für die Einflussnahme von Interessengruppen dargestellt.
Im Aussendepartement sei man entsetzt gewesen über den Artikel, heisst es. Cassis liess einen Reporter recht nahe an sich heran - der positive Effekt blieb aber aus. Die medienskeptische Haltung werde verstärkt von Nicolas Bideau, der seit Ende 2022 der Kommunikationschef im Departement ist. Als Bideau die Sektion Film im Bundesamt für Kultur führte, kam er in der Presse manchmal schlecht weg. «Da arbeiten zwei zusammen, die mit den Medien schlechte Erfahrungen gemacht haben», sagt ein Beobachter.
Warum spricht Cassis nicht mehr mit den Schweizer Medien, abgesehen von der SRG? Die Medienstelle des Aussendepartements antwortet ausweichend:
Wichtige Entscheide und Meilensteine in zentralen Dossiers würden regelmässig via Medienkonferenzen kommuniziert. Die Medienkonferenzen stellten die Gleichbehandlung aller Medien sicher.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat für solche Erklärungen kein Verständnis. «Dass sich ein Bundesrat so verhält, ist ungewöhnlich», schreibt er. Zum Profil des Bundesratsamts gehöre: in der Lage zu sein, allen seriösen Medien Rede und Antwort zu stehen, auch in Interviews, und nicht nur der SRG. «So überlässt aber der Regierungsverantwortliche für Aussenpolitik die Deutungshoheit und das Narrativ vollständig anderen Akteuren, bei der EU-Politik, bei der Neutralitätsdebatte, bei der Frage, welche Entwicklungszusammenarbeit die Schweiz will, wie viel sie kosten soll, beim Wiederaufbau und der Unterstützung der Ukraine usw.»
Es seien Themen von grosser Wichtigkeit für die Schweiz im Aussendepartement – «und das qualifizierte Schweigen von Bundesrat Cassis ist nicht gehalten, der Bevölkerung Orientierung zu geben in diesen wichtigen Fragen.»