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Cassis liest keine Zeitungen und gibt ihnen keine Interviews

Swiss Federal Councillor Ignazio Cassis speaks during a press conference in Locarno, southern Switzerland on Sunday June 30, 2024. The storm in the night from Saturday to Sunday destroyed various traf ...
Findet, Zeitungen tun ihm nicht gut: Bundesrat Ignazio Cassis.Bild: keystone

Cassis liest keine Zeitungen und gibt ihnen keine Interviews – das sorgt für Irritation

Aussenminister Ignazio Cassis spricht nur noch mit den Sendern der SRG. Mitte-Präsident Gerhard Pfister kritisiert das scharf: Cassis überlasse die Deutung der Europapolitik und der Schweizer Neutralität anderen. Sein Schweigen gebe der Bevölkerung keine Orientierung.
13.07.2024, 09:29
Francesco Benini / ch media
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Im Jahr 2022 gab Bundesrat Ignazio Cassis den privaten Schweizer Medien 30 Interviews. Er sprach mit der NZZ, dem «Tages-Anzeiger», dem «Blick», mit CH Media, «Le Temps», dem «Corriere del Ticino» und anderen mehr. 2023 ging es so weiter - bis am 5. Juni. Cassis redete mit dem «Boten der Urschweiz» über seine Beziehung zur Zentralschweiz.

Es war das bisher letzte Interview des Aussenministers mit einer Zeitung. Seit über einem Jahr hat sich Cassis mit keiner Redaktion eines privat geführten Medienhauses mehr eingehend unterhalten.

Das ist ungewöhnlich für einen Bundesrat. Die Magistraten erklären ihre Positionen normalerweise gerne in den Medien. Oder sie versuchen, ein neues Thema zu lancieren. Ignazio Cassis hingegen schweigt - auch wenn seine Dossiers auf Interesse stossen. Die Europapolitik zum Beispiel.

Auch die Bürgenstock-Konferenz vom vergangenen Juni wurde von den Schweizer Medien breit und mehrheitlich wohlwollend abgehandelt. Interviews zur aufwendigen Veranstaltung gab Ignazio Cassis aber keine.

Eine Ausnahme macht er einzig für die Sender der SRG: Der Aussenminister redet gelegentlich in der «Samstagsrundschau» des Schweizer Radios und im «Rundschau Talk» des Fernsehens.

Von «blödsinnigen Artikeln» will er sich nicht einschüchtern lassen

Warum meidet Cassis seit über einem Jahr die privaten Medien? Im September 2023 trat er an einer Wahlkampfveranstaltung der FDP im Tessin auf. Cassis erklärte, man müsse in der Schweiz auch Dinge sagen, die nicht gefielen - und man dürfe sich dabei von einem «articolo cretino», einem blödsinnigen Artikel, nicht einschüchtern lassen.

«Ich lese keine Zeitungen mehr», fuhr Cassis fort. Sie seien nicht gut für ihn. «Sie helfen mir nicht, die Energie zu finden, um die richtigen Dinge zu tun.» Die Medienschelte des Bundesrates war widersprüchlich: Er sagte einerseits, dass man sich von Zeitungstexten nicht zermürben lassen dürfe. Anderseits meinte er, dass die Zeitungen nicht gut für ihn seien. Kritische Artikel scheinen den Aussenminister also beschäftigt zu haben.

Jedenfalls führt Cassis seit jenem Tadel keine Interviews mit der Presse mehr. In Bundesbern hört man, dass ein Text der NZZ zu diesem Entscheid beigetragen habe.

Am 13. Mai 2023 erschien ein Porträt des Aussenministers. Der NZZ-Reporter begleitete Cassis an Auftritte. Vernichtend war die Kritik nicht. Der Journalist schrieb, dass Cassis bereit sei für den «grossen Coup» - den er aber nie erreiche. Der Tessiner Bundesrat wird ausserdem als empfänglich für die Einflussnahme von Interessengruppen dargestellt.

Im Aussendepartement sei man entsetzt gewesen über den Artikel, heisst es. Cassis liess einen Reporter recht nahe an sich heran - der positive Effekt blieb aber aus. Die medienskeptische Haltung werde verstärkt von Nicolas Bideau, der seit Ende 2022 der Kommunikationschef im Departement ist. Als Bideau die Sektion Film im Bundesamt für Kultur führte, kam er in der Presse manchmal schlecht weg. «Da arbeiten zwei zusammen, die mit den Medien schlechte Erfahrungen gemacht haben», sagt ein Beobachter.

An den Medienkonferenzen seien alle Medien gleich

Warum spricht Cassis nicht mehr mit den Schweizer Medien, abgesehen von der SRG? Die Medienstelle des Aussendepartements antwortet ausweichend:

«Bundesrat Cassis legt grossen Wert auf eine transparente, sach- und stufengerechte Kommunikation. Es ist ihm wichtig, die institutionellen Abläufe zu respektieren und seiner Verantwortung als Mitglied des Bundesrates und Aussenminister angemessen Rechnung zu tragen.»

Wichtige Entscheide und Meilensteine in zentralen Dossiers würden regelmässig via Medienkonferenzen kommuniziert. Die Medienkonferenzen stellten die Gleichbehandlung aller Medien sicher.

Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat für solche Erklärungen kein Verständnis. «Dass sich ein Bundesrat so verhält, ist ungewöhnlich», schreibt er. Zum Profil des Bundesratsamts gehöre: in der Lage zu sein, allen seriösen Medien Rede und Antwort zu stehen, auch in Interviews, und nicht nur der SRG. «So überlässt aber der Regierungsverantwortliche für Aussenpolitik die Deutungshoheit und das Narrativ vollständig anderen Akteuren, bei der EU-Politik, bei der Neutralitätsdebatte, bei der Frage, welche Entwicklungszusammenarbeit die Schweiz will, wie viel sie kosten soll, beim Wiederaufbau und der Unterstützung der Ukraine usw.»

Es seien Themen von grosser Wichtigkeit für die Schweiz im Aussendepartement – «und das qualifizierte Schweigen von Bundesrat Cassis ist nicht gehalten, der Bevölkerung Orientierung zu geben in diesen wichtigen Fragen.»

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105 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Solong
13.07.2024 09:00registriert Februar 2024
Aus Bundesrat Cassis kann man halt nicht mehr machen als er ist. Man spürt ihn nicht, sieht ihn nicht und vielleicht braucht es ihn auch nicht. Aber da ist er ja bei weitem nicht der einzige.
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Unsinkbar 2
13.07.2024 09:21registriert August 2019
Tja, wir verdienen halt die Leute, die wir wählen, und viel zu viele wählen halt noch immer die FDP🙃
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sinkflug
13.07.2024 09:17registriert Juli 2020
Wenn die FDP keine fähigeren Leute für den Bundesrat hat, wäre es vielleicht an der Zeit, dass eine andere Partei den Sitz bekommt.
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