Kaiser Kangxi plagten 1699 fürchterliche Zahnschmerzen, so sagen die Quellen. Am Hof in Peking machte sich Ratlosigkeit breit. Da erinnerte man sich daran, dass einem europäischen Häftling in Chinas Hauptstadt ein exzellenter Ruf als Zahnzieher vorauseilte: Johann Jakob Bossart aus der Schweiz.
Dieser war als Schiffschirurg der Niederländischen Ostindien-Kompanie auf der Insel Formosa (heute Taiwan) in chinesische Gefangenschaft geraten und nach Peking gebracht worden. Bossart wurde aus dem Kerker geholt und in den kaiserlichen Palast gebracht. Er zog Kangxi den schmerzenden Zahn – und der dankbare Kaiser schenkte ihm dafür die Freiheit.
Die über 300 Jahre zurückliegende Anekdote markiert den Beginn der Beziehungen zwischen der Schweiz und China. Nachzulesen ist sie in einem neuen Buch der Historikerin und Sinologin Ariane Knüsel von der Universität Freiburg und des Politikwissenschafters und Philosophen Ralph Weber vom Europainstitut der Universität Basel*.
Knüsel und Weber zeichnen darin die Beziehungsgeschichte zwischen den beiden Ländern nach – und bringen den Leserinnen und Lesern dabei die Menschen näher, die diese Geschichte geprägt haben.
Das lesenswerte Werk ist die erste Gesamtschau zum Thema. Auch wenn sich die Schweiz und China – und der weltpolitische Kontext – seit den Zeiten von Kaiser Kangxi enorm verändert haben, ist die Beziehungsgeschichte doch von Konstanten geprägt.
«Der Blick der Schweiz auf China war immer und ist bis heute von Chinas wirtschaftlichem Potenzial als Absatzmarkt geprägt», sagt Co-Autorin Ariane Knüsel im Gespräch mit CH Media. Dies geschah bereits im frühen 19. Jahrhundert, als Schweizer Uhrmacher speziell für den chinesischen Markt angefertigte Uhren herzustellen begannen.
Die Vorstellung, dass sich in China «unvorstellbarer Wohlstand erwirtschaften» lasse, entspreche jedoch längst nicht immer der Realität. Als Beispiel nennt Knüsel die Hoffnungen von Schweizer Nylonstrumpfproduzenten in den 1980er-Jahren. «Diesen Unternehmen war nicht klar, dass die chinesische Bevölkerung damals fast ausschliesslich in blauen Mao-Uniformen aus Baumwolle herumlief.»
Doch für viele Schweizer Firmen zahlte sich das Geschäft mit dem Reich der Mitte aus. Schweizer Unternehmen spielten oft eine Pionierrolle im Austausch mit China. Sie profitierten in China auch vom vergleichsweise positiv geprägten Blick der chinesischen Machthaber auf die Eidgenossenschaft.
Anders als andere europäische Staaten gilt die Schweiz nicht als koloniale Macht, die für das «Jahrhundert der Demütigung» mitverantwortlich war. Diese Phase der chinesischen Geschichte begann mit dem Ersten Opiumkrieg von 1839 und dauerte bis zum Zweiten Weltkrieg. Sie war geprägt von internem Streit sowie militärischer und wirtschaftlicher Unterlegenheit gegenüber dem Westen. Die Machthaber in Peking wurden von westlichen Staaten zur Unterzeichnung zahlreicher für China ungünstiger Verträge gezwungen.
Mit diesen Abkommen wurden chinesische Häfen für den Handel mit westlichen Gütern geöffnet, westliche Staatsangehörige in China erhielten Privilegien, in den wichtigsten Handelsstädten wurden spezielle Wohngebiete für Ausländer unter der Schutzherrschaft westlicher Staaten eingerichtet
Auch wenn die Schweiz als Staat anders etwa Grossbritannien, Frankreich oder die USA nicht an der kolonialen Machtpolitik mitmachte, «waren Schweizer Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger in China durchaus Teil der kolonialen Präsenz», erklärt Historikerin Knüsel. Im Buch findet sich etwa ein Bild der Gattin des Schweizer Generalkonsuls in Guangdong (Kanton), die sich in einer Sänfte herumtragen lässt.
Nach der Machtübernahme der Kommunisten 1949 profitierte die Schweiz und ihre Unternehmen auch davon, dass die Eidgenossenschaft die Volksrepublik China als eines der ersten westeuropäischen Ländern anerkannte. Sie wurde im aufziehenden Kalten Krieg von Peking als neutrales Land betrachtet und nicht dem engen Kreis um die USA zugerechnet.
In den düsteren Jahren der Kulturrevolution unter Mao Zedong ab 1966 gehörten Schweizer Handelshäuser wie Siber Hegner zu den wenigen westlichen Unternehmen, die in China tätig blieben. Mit der wirtschaftlichen Öffnung unter Deng Xiaoping ab 1978 machte sich unter Schweizer Unternehmen schon bald eine regelrechte Goldgräberstimmung breit, wie Ariane Knüsel erläutert. Der Liftbauer Schindler aus Ebikon LU wurde 1980 als erstes westliches Unternehmen überhaupt Teil eines industriellen Joint Ventures in China.
Auch die Ems-Chemie unter Führung des späteren SVP-Bundesrats Christoph Blocher stieg in den chinesischen Markt ein und baute in China 117 Fabriken auf. 1985 nahm Blocher seine ganze Familie auf eine mehrwöchige Geschäftsreise nach China mit.
Im Gespräch mit den Autoren schilderte Blocher, dass er erkannt habe, wie viel Wert die Chinesen auf Formalitäten und Details legten: «Und so knabberte er während seiner Chinareise höflich an allen ihm aufgetischten Speisen, von Schlangen bis Affen, während sich der Rest der Familie angewidert vom Teller abwandte», heisst es im Buch. Zwecks Beziehungspflege wurden Parteikader aus den chinesischen Provinzen, wo Blochers Fabriken standen, auf seinem Schloss Rhäzüns fürstlich bewirtet.
Blocher steht für einen weiteren Faktor, der das vergleichsweise positive Bild der Schweiz in China erklärt: Äusserste Zurückhaltung mit Kritik an der Politik Chinas – und die Priorisierung von wirtschaftlichen Interessen über moralische Bedenken.
Diese Linie zeigte sich auch im Nachgang zum Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989. Der Bundesrat verurteilte zwar das Vorgehen der chinesischen Armee, blieb dabei jedoch in der Tonalität im Vergleich zu anderen westlichen Ländern moderat. In einer internen Besprechung des Aussendepartements EDA wenige Wochen später hielt ein hochrangiger Beamter fest: «Auch weiterhin sind keine spektakulären Aktionen der Schweiz geplant. Die gegenwärtige schweizerische Politik ist die einer abwartenden Zurückhaltung.»
Dies hat sich in den 35 Jahren seit dem Tiananmen-Massaker wenig geändert. Der «Menschenrechtsdialog», den die Schweiz mit China pflegt, fällt äusserst diskret und weitgehend resultatefrei aus. Den Dalai Lama, religiöser Führer der grossen tibetischen Gemeinschaft in der Schweiz, hat seit 2005 kein Bundesratsmitglied mehr empfangen. Und die EU-Sanktionen gegen chinesische Firmen und Beamte im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen an der uigurischen Minderheit hat die Schweiz nicht übernommen.
Die Schweiz achte stärker als andere westliche Staaten darauf, dass Menschenrechtsfragen die bilateralen Beziehungen nicht trübten, sagt Ariane Knüsel. Unter dem seit 2012 amtierenden Partei- und Staatschef Xi Jinping reagiere China noch negativer auf Kritik von aussen als zuvor. «Ohne dies zu werten, muss man feststellen: Wer heute mit China Handel treiben will, muss ein Stück weit kuschen.»
Die Schweiz sei gut damit gefahren, ihre Chinapolitik pragmatisch zu gestalten, bei Signalen aus Peking zwischen den Zeilen zu lesen und dadurch genau abzuwägen, welche Massnahmen welche Folgen haben könnten, bilanziert Ariane Knüsel nüchtern.
Vor 325 Jahren soll der inhaftierte Schweizer Schiffschirurg Johann Jakob Bossart den chinesischen Kaiser Kangxi von seinem Zahnweh befreit haben. So einfach lassen sich die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mehr lösen. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten dürfte die Aggressivität von Chinas Aussenpolitik der Schweiz zunehmend Schmerzen bereiten. Die hiesige Wirtschaft und der Bundesrat dürften auf bewährte Medizin setzen: Pragmatismus und Kritik, die – wenn überhaupt geäussert – zahnlos ausfällt.
*Buchhinweis: Ariane Knüsel, Ralph Weber: Die Schweiz und China. Von den Opiumkriegen bis zur neuen Seidenstrasse. Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2024. (aargauerzeitung.ch)