Das Material für die Nein-Kampagne lag schon bereit. Umso grösser war die Überraschung, als die SVP des Kantons Aargau am Mittwochabend in Lupfig entgegen der nationalen Parteilinie die Ja-Parole zum Covid-19-Gesetz beschloss. Es war ein sehr knapper Entscheid mit 48 zu 47 Stimmen (ein Antrag auf Stimmfreigabe war klar gescheitert).
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Wie konnte das passieren? Die Aargauer gelten in der Regel als stramm linientreu. Präsidiert wird die Kantonalpartei von Nationalrat und Ober-Scharfmacher Andreas Glarner. Er polemisiert auch gegen die Corona-Politik des Bundesrats, obwohl er selber an Covid-19 erkrankt war und laut eigenem Bekunden bis heute unter den Langzeitfolgen leidet.
Im «Ochsen» in Lupfig aber stahl ihm ein anderer die Show: Der kantonale Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati verwies laut «Aargauer Zeitung» darauf, dass der Parteitag ohne Masken, Abstandsregeln, Reduktion der Personenzahl und sonstige Einschränkungen nur mit dem Zertifikat möglich sei, das Glarner bekämpfen wollte.
Das Zertifikat verhindere Lockdowns, sagte Gallati. Er bezeichnete das zweite Referendum gegen das Covid-Gesetz sogar als Zwängerei und konnte die knappe Mehrheit der Anwesenden überzeugen. Glarner hatte das Nachsehen. Es war ein symbolträchtiger Entscheid, denn eigentlich ist Jean-Pierre Gallati alles andere als ein «eingemitteter» SVPler.
Der 55-jährige Anwalt aus Wohlen war jahrelang der engste Mitstreiter von Andreas Glarner. Sie galten laut der AZ als «Duo infernale, das die SVP Aargau antrieb und ihre politischen Gegner das Fürchten lehrte». Beide gehörten der «Stahlhelm»-Fraktion an, die von SVP-Politikern aus dem Freiamt gebildet wurde und selbst «Abweichler» im eigenen Lager nicht schonte.
Wie Glarner war auch Gallati in diversen rechtsbürgerlichen Gruppierungen aktiv, für die der Aargau, ein Kanton ohne klare Identität, seit jeher ein guter Boden war. Dazu gehörte etwa die 2019 aufgelöste Aargauische Vaterländische Vereinigung. Im Grossen Rat, dem Kantonsparlament, war Gallati der Nachfolger von Glarner als SVP-Fraktionschef.
Vor zwei Jahren gelang ihm der Sprung in die Regierung. Bei der Wahl im November 2019 setzte er sich hauchdünn gegen SP-Nationalrätin Yvonne Feri durch und übernahm das Departement Gesundheit und Soziales. Kurz danach begann die Pandemie. Anfangs lavierte Gallati, als SVP-Hardliner tat er sich schwer mit Massnahmen wie der Maskenpflicht.
Der damalige SP-Fraktionschef und heutige Regierungskollege Dieter Egli gab ihm für sein Krisenmanagement eine knapp genügende Note, «etwa eine 4,25». Zu Gallatis Sinneswandel – und zum Bruch mit Glarner in der Corona-Politik – kam es im letzten Winter, als ihm als zuständigem Regierungsrat die alarmierende Situation in den Spitälern bewusst wurde.
Von da an verteidigte Gallati die Corona-Politik des Bundesrats derart, dass die «Weltwoche» ihn als «Bersets Mann im Aargau» bezeichnete. Auf Tele M1 verwahrte er sich gegen die Diktatur-Vorwürfe von Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher genauso wie gegen die Bestrebungen seiner Partei, «das Ende einer Pandemie per Gesetz festlegen zu wollen».
Das Covid-Zertifikat und die Impfung verteidigte er vehement, auch im «Blick»-Streitgespräch mit seinem einstigen «Kampfgenossen» Andreas Glarner Ende August auf dem Aarauer Bahnhofplatz: «Ich verstehe Herrn Glarner wirklich nicht! Er spricht von einer Sauce und ist selber geimpft. Wenn die Impfung so riskant wäre, hätte er sich nicht impfen lassen!»
Damit hat Jean-Pierre Gallati den Wandel vom Scharfmacher zum Exekutivpolitiker vollzogen, ähnlich wie Natalie Rickli in Zürich. Vielleicht hatte er dabei das Schicksal seiner Amtsvorgängerin Franziska Roth vor Augen. Die SVP-Quereinsteigerin war heillos überfordert, verkrachte sich mit allen und trat nach zweieinhalb Jahren entnervt zurück.
Einer von Roths schärfsten Kritikern war ihr Parteikollege und späterer Nachfolger Gallati. Heute ärgert er sich über die Politik seiner Partei zu Corona, wie er der «Weltwoche» sagte: «Es fehlt uns an Leuten, die sich bei diesem Thema auskennen, die kompetent sind.» Tatsächlich gehört die Gesundheitspolitik traditionell zu den unbeliebten Themen in der SVP.
Gleichzeitig war dies eine weitere Spitze gegen Andreas Glarner, denn der sitzt in der Gesundheitskommission des Nationalrats. Nun ist Gallati in Lupfig der bisher grösste Coup gelungen. Ganz allein stand er nicht. Er konnte auf die Schützenhilfe des früheren Kripochefs Urs Winzenried zählen, einer im Aargau bestens bekannten Persönlichkeit.
Wie sich die Ja-Parole auf das Verhältnis zwischen den einstigen «Zwillingen» auswirkt, wird sich zeigen. Nach dem «Blick»-Showdown hatte Glarner der «Aargauer Zeitung» gesagt, der Corona-Streit habe «unsere Beziehung nicht belastet». Gallati bezeichnete er als besten Regierungsrat, «den wir haben können». Ob das immer noch gilt?