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Coronavirus

Coronavirus: Fallzahlen in der Schweiz und was der Herbst bringen wird

Trotz hoher Infektionszahlen fallen bald alle Massnahmen – wird sich das im Herbst rächen?

Ende März sollen in der Schweiz die Massnahmen fallen. Doch die Fallzahlen sind in Rekordhöhe, viele Menschen sind krank. Die Epidemiologen sind unterschiedlicher Meinung, wie es weitergehen soll.
18.03.2022, 20:4119.03.2022, 16:48
Bruno Knellwolf & nina fargahi / ch media
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Omikron wütet, die Neuinfektionen sind gegenüber der Vorwoche wieder um etwa 20 Prozent angestiegen. Kommt dazu, dass die Dunkelziffer hoch ist, weil sich nicht mehr alle testen lassen. Aber viele erkranken jetzt, leiden zumindest an Kopf- und Halsweh sowie an Husten und sind erschöpft. Zumindest die knapp bemessenen fünf Tage in Isolation müssen sie zu Hause bleiben. In den Spitälern fehlt bereits viel Personal, die Situation sei deswegen schwierig, sagte Christoph Berger vom Kinderspital Zürich.

Eine Kinder Maske liegt in einem Schulrucksack einer Primarschuelerin, aufgenommen am Montag, 3. Januar 2022 in Zuerich. Die Maskentragpflicht im Kanton Zuerich wird mit dem Schulstart nach den Weihna ...
Viele liegen derzeit wegen Covid-19 krank zu Hause. Verabschieden wir trotzdem bald die Schutzmasken?Bild: keystone

Nicht nur dort, auch die SBB melden Personalengpässe. «Die Zahl der krankheitsbedingten Ausfälle bei den SBB steigt wie in der gesamten Schweiz wieder», sagt SBB-Sprecher Reto Schärli.

«Teilweise bestehen keine personellen Reserven mehr. Einzelne Zugausfälle bei den SBB infolge kurzfristiger Krankmeldungen sind nicht ausgeschlossen.»

Wegen fehlenden Personals könne es bei Zugreisen über die Grenze zu Fahrplanänderungen kommen.

Baldiges Ende aller Massnahmen

Trotz dieser Infektionszahlen, die beinahe so hoch sind wie zum Höhepunkt dieser Welle im Januar, steht Ende März das Ende aller Massnahmen in Sicht. Der Bundesrat wird mit der Aufhebung der besonderen Lage dann wohl die Masken- und Isolationspflicht im April beenden.

Das bringt die Virologin Isabelle Eckerle vom Universitätsspital Genf in Rage. Seit Tagen twittert sie gegen die ansteigende Sorglosigkeit der Politik und der Bevölkerung. «Man kann auch jeden Tag aufs Neue behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist. Es wird trotzdem nicht wahr.

Genauso ist dem Ende der Pandemie», schreibt Eckerle und wird ironisch: «Endlich so viel Freiheit, andere mit Sars-CoV-2 anzustecken, Risikopersonen zu gefährden oder sie aus dem öffentlichen Raum auszuschliessen, Freiheit, mehr neue Mutationen zu fördern, Freiheit, mit allem so weiterzumachen, dass man weiterhin Pandemien provoziert», schreibt die Virologin aus Genf.

Die Wissenschaft werde ignoriert, die Realität ausgeblendet. Auch die Lösung der Schweiz, nach fünf Tagen die Covid-19-Isolation zu beenden und dann jeweils ohne Masken in den Alltag zurückkehren zu können, hält sie für eine schlechte Idee. «Wir wissen aus eigenen Daten, dass cirka die Hälfte nach fünf Tagen noch infektiöses Virus trägt.» Eine komplett andere Meinung vertritt der Infektiologe Pietro Vernazza im Buch «Der Corona-Elefant». Das höchste Risiko der Übertragung auf weitere Personen bestehe 0.7 Tage vor Symptombeginn. «Nach Abklingen der Symptome dürfte der Anteil auf unter 20 Prozent absinken, was den Effekt einer zehntägigen Isolation in Frage stellt», schreibt Vernazza.

Marcel Tanner hält den Ausstieg für verantwortbar

Ist der Abschied von den Massnahmen somit ein verwegener Husarenritt? Man orientiere sich zurzeit nicht an Fallzahlen, sondern vor allem an den Hospitalisationen und den schweren Erkrankungen und damit an der Belastung des Gesundheitssystems, sagt dazu der Epidemiologe Marcel Tanner. Beide haben trotz der dominanter werdenden Omikron-Variante BA.2 bis jetzt nicht stark zugenommen. Die vielen Covid-19-Ausfälle in den Betrieben und der damit bedingten Isolation seien im Moment das grössere Problem. Die Situation mit der Variante Omikron, die Geimpfte und Genesene weniger gefährde, sei stabil genug, um das Ende der Massnahmen im Frühling zu verantworten, sagt Tanner.

Allerdings bedeutet die Aufhebung der Isolation, dass kranke Menschen unter Umständen noch schneller in den Arbeitsprozess zurückkehren und andere gefährden. Das erhöht generell die Ansteckungsgefahr. Sollte das wieder zu vermehrten Ansteckungen und vor allem Hospitalisationen kommen, müsste man nach Tanner reagieren. Nach Aufhebung der besonderen Lage wäre die Rückkehr von Massnahmen dann aber grösstenteils in der Hand der Kantone. «Die Verantwortung geht zurück an den Einzelnen. Wer beispielsweise hustet und Kopfweh hat, sollte nicht am Abend in den Club. Das funktioniert leider nicht immer», sagt Tanner.

Zurück geht die Verantwortung auch an Betriebe und Firmen, die nun selbst dafür sorgen müssen, dass das Virus sich in ihrem Betrieb nicht übermässig ausbreitet, sei es mit Masken, Desinfektionsmitteln und guter Lüftung. «Das gehört zur Deeskalation, dass die Verantwortung zurück zu den Bürgerinnen und Bürgern geht und Papa Staat nicht mehr sagt, was man machen muss», sagt Tanner.

Die Regierung habe sich entschlossen, die Massnahmen in zwei Stufen zu beenden. Er hätte einen schrittweisen Rückzug bevorzugt. Dieser wäre pragmatisch betrachtet in einer immer sorgloser werdenden Bevölkerung aber schwierig durchzusetzen gewesen.

Engelberger befürwortet Normalisierungsschritt

Der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren Lukas Engelberger befürwortet grundsätzlich den geplanten Normalisierungsschritt, «wenn die Lage sich nicht dramatisch verschlechtert». Der Zeitpunkt ab April scheine saisonal günstig, weil dann frühlingsbedingt eine gewisse Entspannung erwartet werden könne. «Wenn die Belastung der Spitäler in den kommenden Tagen stark zunehmen sollte, müsste der Bund jedoch eine Verlängerung der geltenden Massnahmen prüfen.»

Die geltende Maskenpflicht in den Gesundheitseinrichtungen und im öffentlichen Verkehr könne von diesen Betrieben eigenständig weitergeführt werden, so Engelberger.

«Von Spitälern und Heimen erwarte ich das ganz klar, da sich dort viele besonders vulnerable Personen aufhalten und auch das Personal geschützt werden muss.»

«Beim ÖV scheint das weniger akut, da die Fahrgäste sich besser selber schützen können.»

Ist das das Ende der Pandemie?

Haben wir das Ende der Pandemie also noch nicht erreicht, wie Eckerle behauptet? Eine Pandemie zeichne sich durch eine gleichmässige Verteilung des Virus auf der ganzen Welt aus, sagt Tanner. Jetzt sei die Situation in den verschiedenen Ländern heterogen. «Wir sehen in vielen Ländern den Übergang in eine endemische Situation, die sich dadurch charakterisiert, dass es dann nicht mehr zu flächendeckenden Wellen kommt, welche viele Menschen erfassen und auch ins Spital bringen», sagt Tanner.

In der Schweiz ist typisch für eine Endemie die Immunität der Bevölkerung durch Impfung und Genesung hoch. «In dieser endemischen Situation mit einer hohen Virus-Übertragbarkeit gibt es dort schwere Ausbrüche, wo Leute keinen guten Immunschutz haben. Keinen guten Immunschutz haben alte Menschen, solche mit Immundefekten und Ungeimpfte. In den Intensivstationen waren in den letzten Wochen über 90 Prozent der schwererkrankten Menschen mit schweren Immundefekten oder Ungeimpfte», sagt Tanner.

«Der Blick muss aber nicht auf morgen und die nächsten Wochen gerichtet werden, sondern darauf, was im Herbst kommt», sagt Tanner. Bevor die nächste virenfreundliche Kaltphase kommt, müssten auch die Booster-Strategien geklärt werden. An einen zweiten Booster müsse man sicher denken, zumindest im Herbst und insbesondere für Risikogruppen. Die Strategie für die vierte Impfung wird wohl sein, dass vorab ältere Menschen sicher sechs Monate nach dem letzten Booster eine Auffrischung erhalten.

Bald kommen auch die Schnellzulassungen von an Virusvarianten angepassten mRNA-Impfstoffen von Moderna und Biontech/Pfizer. «Darum muss man sich jetzt überlegen, ob wirklich nochmals alle einen klassischen Booster brauchen oder doch eher einen angepassten Impfstoff in den nächsten Monaten», sagt Tanner. Die beste und lang andauernde Wirkung werde wohl ein Impfstoff der zweiten Generation haben, der eine grosse Bandbreite von Sars-CoV-2-Varianten abdeckt.

Eckerle bleibt vorsichtig und schreibt: «Die Pandemie hat zwar augenscheinlich einen Teil des sichtbaren Schreckens verloren, bleibt aber eine schlecht vorhersagbare Herausforderung, wahrscheinlich noch für Jahre. Es wird vorerst kein Zurück zum Leben vor 2020 geben (und nicht nur wegen Sars-CoV-2)», twittert die Virologin.

Vernazza rechnet mit einem endemischen Sars-CoV-2

Optimistischer sieht Vernazza in seinem Buch nach vorne: Man dürfe davon ausgehen, dass sich Covid-19 über kurz oder lang wie eine endemische Coronainfektion mit mildem Verlauf präsentieren werde. Weiterhin würden aber betagte Menschen aufgrund des gealterten Immunsystems an Covid-19 sterben, «wie dies bei allen anderen endemischen Coronaviren und weiteren viralen Atemwegsinfektionen immer schon der Fall war». Gleichzeitig betont Vernazza aber auch: «Auch wenn eine Covid-19-Erkrankung in der Regel mild verläuft, kann sie auch jüngeren Erwachsenen in Einzelfällen schwer verlaufen. Daher ist es nach heutigem Wissen sinnvoll, dass man einmal eine Grundimmunisierung hat.» (bzbasel.ch)

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56 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tepalus
18.03.2022 21:42registriert Oktober 2016
"Alle Massnahmen"

Also die Maslenpflicht im ÖV. Viel mehr Massnahmen spührt man nicht mehr...
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lilas
18.03.2022 22:00registriert November 2015
Wir wissen bald nicht mehr wie wir die Dienste abdecken sollen, hinzu kommen täglich neue Patienten die isoliert werden müssen was in der direkten Pflege ein grosser Mehraufwand bedeutet, ich hoffe, dass es bald alle mal gehabt haben..
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R10
19.03.2022 06:24registriert Juli 2016
Ich bleibe dabei, die Maskenpflicht im ÖV tut keinem weh und könnte man beim momentanen Infektionsgeschehen auch noch etwas verlängern (Ja ich weiss, FFP2. Der Schutz ist aber viel viel besser wenn andere auch Masken tragen). Betr der Isolationspflicht glaube ich einfach nicht mehr daran, dass diese grösste Portion an Eigenverantwortung funktionieren wird. Diese beiden Einschränkungen sind kaum mehr der Rede wert im Alltag und ich verstehe nicht ganz, warum man sie auf Teufel komm raus genau jetzt bei weiter steigenden Zahlen aufheben muss und nicht noch ein Monat warten kann.
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