Es herrscht rege Geschäftigkeit in den noch geschlossenen Läden an der Zürcher Europaallee am frühen Montagmorgen. Die Mitarbeitenden putzen Vitrinen, rücken Schaufensterpuppen zurecht und zupfen an den zur Verfügung gestellten Masken und Desinfektionsmitteln im Eingangsbereich herum.
Nach acht Wochen Ausnahmezustand kehrt in der Schweiz heute ein Stückchen Normalität zurück. Kleiderläden laden wieder zum Shoppen ein, Restaurants dürfen wieder Gäste bedienen.
Ein paar hundert Meter weiter an der Bahnhofstrasse ist die Stimmung ruhig. Vor Globus, Zara und dem Louis Vuitton Store warten zahlreiche Personen geduldig und mit genügend Abstand auf den Einlass.
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In den H&M gelangt man hingegen ohne Anstehen. Aber auch da wird man beinahe alle fünf Meter an das Virus erinnert. Überall stehen Schilder, die auf Hygiene- und Distanzregeln aufmerksam machen. Das Personal hinter den Kassen trägt Schutzmasken.
Auf der anderen Flussseite, im Zürcher Niederdörfli, wuseln die Beizenbetreiber geschäftig herum, wischen den Boden und platzieren die letzten Gartentische auf dem Pflaster. Die frisch geputzten Schiefertafeln buhlen mit XXL-Cordons-bleus und Pommes Frites um die ersten Gäste.
Eine Mitarbeiterin des N-68 desinfiziert eifrig Stuhllehne um Stuhllehne. In der Rheinfelder Bierhalle links daneben sind bereits zwei Tische besetzt. Die Gäste trinken, paffen und unterhalten sich über die Tische hinweg miteinander. «Wetsch nomal es Grosses?», ruft die Kellnerin aus dem Innern der Kneipe.
Wo die Tische nicht zwei Meter auseinander stehen, wurde kreativ getüftelt. So etwa in der Cana-Bar. Paletten mit bunten Plexiglasscheiben trennen die Vierertische voneinander. Ein Dutzend Personen schlendert durch die Gassen, blickt neugierig in die Kleider- und Schuhläden.
Etwas weiter in Richtung Süden wartet ein Securitas-Mitarbeiter vor der Zentralbibliothek Zürich. Er grüsst freundlich. Drinnen sticht das Rot-Weiss des Absperrbandes in die Augen. Lernplätze und Lesesäle sind weiterhin geschlossen. Eine Handvoll Menschen stöbert mit frisch desinfizierten Bücherkörben durch die Katakomben im Untergeschoss.
Im halbvollen 4er Tram geht es an die Hardbrücke. Dort begrüsst auch das Restaurant Rosso das erste Mal seit acht Wochen wieder Gäste im Lokal. Die Serviceangestellten tragen einen Spuckschutz. Beinahe wähnt man sich in einer dystopischen Netflix-Serie à la «Black Mirror». Die Speisekarte ist aus Papier und wird nach Gebrauch weggeworfen. «Nach jedem Besuch wird der Tisch gereinigt und desinfiziert», so der Kellner.
Grüne und weisse Platten trennen die Gäste, wo die Tische zu lang sind. Langsam tröpfeln die ersten Gäste herein. Ausnahmslos alle bestellen Pizza. Wäre es ein normaler Montagmittag, wäre der Geräuschpegel hoch, die Serviceangestellten würden durch das vollbesetzte Lokal hetzen. Doch nichts dergleichen passiert. Es scheint fast so, als hätten die acht Wochen Shutdown die Welt etwas entschleunigt.
Mit ausgestreckten Armen steht Mohammed auf dem Berner Waisenhausplatz. Der Somalier strahlt über das ganze Gesicht. «Das Leben kommt zurück. Endlich ist Bern wieder das Bern, wie ich es kenne.» Ganz so weit ist es aber noch nicht.
Besonders die Beizen sind am Tag eins der Lockdown-Lockerung weit von der Normalität entfernt. Das Personal im sonst betont locker-legeren Kultlokal «Pyri» achtet penibel darauf, dass die Abstände eingehalten werden. Die Stammgäste Wale und Pole gönnen sich einen frühen Weissen. «Ändlich chöimer wieder zäme liire», sagen sie und prosten sich zu.
Die Stammkundschaft muss sich aber umgewöhnen. Sich spontan an einen Tisch setzen und losquatschen – was die Seele des Lokals ausmacht – ist tabu. Es ist trotzdem ein Freudentag. «Wir sind einfach froh, können wir wieder in unserer Beiz sitzen», so Wale.
Vor dem Mittag füllen sich die Gassen der Innenstadt. Im Gegensatz zu Zürich bilden sich in Bern aber keine Schlangen vor den Läden. «Der heutige Tag ist ein wichtiger Richtung Normalität. Ich freue mich mega. Und bin froh, dass nicht alle Leute Masken tragen. Dann sieht es nicht so komisch aus», sagt Gymnasiastin Aisha, als sie an ihrem Kafi nippt.
Tristesse pur herrscht im normalerweise proppenvollen Migros-Restaurant in der Marktgasse. Im Speisesaal herrscht eine beklemmende Stille, einzelne Gäste sitzen an Vierertischen und tippen auf ihrem Smartphone herum. Die bescheidene Menuauswahl – es gibt nur Cordon bleu oder Ragout – passt zum Ambiente. Einzig das Lachen der Kassiererin ist zu hören: «Schön, seid Ihr wieder da. Ä Guete», sagt sie zu jedem einzelnen Gast.
Ennet der Lorrainebrücke – im Szenelokal Du Nord – trägt das Personal Schutzmasken. Während der Mittagszeit verirren sich nur wenige Kunden in die sonst immer bestens frequentierte Szenebeiz. «Wir hoffen, dass bald wieder mehr Leute kommen», sagt eine Angestellte. Was neben den vielen Bodenmarkierungen auffällt: Die Speisekarte können die Kundinnen per QR-Code einsehen. Nur auf Wunsch wird eine gedruckte Version ausgehändigt.
Zurück in der Innenstadt. Dort sitzt ein Berner «Waldmensch» unter den Lauben am Boden und bettelt. Witold lebt mit fünf weiteren Männern seit rund fünf Jahren im Forst und ist auf kleine Spenden angewiesen. «Wenn es wieder mehr Leute in den Gassen hat, muss ich weniger lang betteln. In den letzten Wochen lief es schon sehr harzig», sagt er. Am heutigen Tag läuft es nicht schlecht: Innert einer Stunde hat er knapp 20 Franken erhalten.